Wenn ich Dir eine Millionensumme überweise mit der Maßgabe, ein Handelsunternehmen zu gründen: Wie sähe das aus?
(lacht) Als wir vor sechs Jahren mit der Beratung angefangen haben, haben uns unsere Kunden auch gefragt, was sie denn tun sollten, um sich auf die digitale Welt einzustellen. Unsere Antwort war nicht selten: Idealerweise verkaufst Du Dein Unternehmen und die Gebäude, noch findest Du einen, der Dir Geld dafür gibt. Und die wahrscheinlich beste Strategie für Dich ist, Amazon-Aktien zu kaufen. Ich weiß nicht, ob den Rat einer befolgt hat.
Gibt es die Unternehmen noch?
Größtenteils. Aber ihr Zustand ist eher prekärer geworden. Ich glaube nicht an Handelsunternehmen, die ihr Geld klassisch über die Produktmarge verdienen müssen. Das funktioniert allenfalls noch in der Nische. Da ist das Musikhaus Thomann für mich das Beispiel Nummer Eins. Oder Sport-Tiedje im Heimfitness-Bereich.
Ein Thomann lebt aber auch von Marge.
Ja. Aber Thomann dominiert seine Nische. Von den vier Milliarden, die in Europa mit Musikinstrumenten umgesetzt werden, entfällt eine Milliarde allein auf Thomann. Die haben sich eine Stellung erarbeitet, die schwer anzugreifen ist. Es müssen Produkte sein, wo es um Investitionsentscheidungen geht, und wo die Kunden mehrfach im Jahr freiwillig zurückkommen. Aber in den meisten Kategorien ist den Menschen völlig egal, wo sie einkaufen. Digitale Handelsmodelle vernichten die Zwischenhandelsmarge, und wer keinen organischen Kundenzugang hat, der kann langfristig nur verlieren. Von daher glaube ich nicht mehr an das klassische Handelsmodell.
Wenn Du in Hamburg die Mönckebergstraße runterläufst und links und rechts schaust: Wer wird dort in 20 Jahren noch da sein?
Ganz am Anfang gibt es einen Nike-Flagshipstore, dann gibt es noch ein paar Läden des täglichen Bedarfs, Rossmann und so weiter. Aber all die Telefonläden, die Modegeschäfte, Peek & Cloppenburg, Görtz – in 20 Jahren wird keiner von denen mehr da sein. Da bin ich ziemlich sicher. Dafür aber mehr von den Cafés, die es in den Stichstraßen rechts und links heute schon gibt.
Ich denke, viele im Handel haben diese existenzielle Herausforderung inzwischen begriffen. Und suchen jetzt ihr Heil online, die Größeren wollen gleich Plattform werden. Kann denn jeder Plattform werden? Oder bleibt am Ende nur noch ein Oligopol weniger Riesen – Amazon, Alibaba, vielleicht noch Zalando?
Wenn drei Leute in Berlin 2008/2009 ein so fundamentales Business neu aufziehen können, dann hat diese Chance grundsätzlich auch ein Peek & Cloppenburg mit seinen tausenden Mitarbeitern. Womit sich diese Unternehmen allesamt schwer tun, ist die Exekution einer neuen Ausrichtung. Da sind vielfach träge, gewachsene Strukturen, die Change verhindern. Wer größere IT-Projekte in solchen Konzernen gemacht hat, weiß, dass die Leute dort nicht doof sind, aber die Legacy macht alles langsam und letztlich viele gute Ideen kaputt. Faktisch muss man daher leider sagen: Es gibt wenig Hoffnung.
Aber ohne Handelspartner wird auch ein Marktplatz nicht funktionieren.
Das stimmt. Natürlich braucht ein Marktplatz Partner, auf die er das Warenrisiko auslagern kann. Ob das Händler oder Hersteller sind, spielt zunächst keine große Rolle. Das ist aber nicht der Engpass. Es stellt sich für Marktplätze eher die Frage, was es bringt, den 500. Anbieter eines USB-Lautsprechers aufzunehmen. Wahrscheinlich nichts. Ein Sortiment von zehn Akkubohrern ist aus Kundensicht nicht so attraktiv wie 100. Aber 1000 sind kontraproduktiv.
Liegt in dem Überangebot nicht eine Achillesferse von Amazon? Letztes Jahr habe ich dort einen Christbaumständer kaufen wollen und fühlte mich irgendwie genötigt, die Kundenbewertungen von x verschiedenen Anbietern zu lesen, um im Nachhinein zu denken: Was verschwende ich hier eigentlich meine Zeit wegen der 20 Euro Preisunterschied.
Das ist mehr als eine Achillesferse. Aber würde es nun für den Hersteller eines Christbaumständers Sinn ergeben, einen Christbaumständer-Marktplatz zu aufzumachen? Eher nicht. Die Suchfunktionen bei Amazon sind im Vergleich zu anderen Anbietern lächerlich. Ich muss dort genau wissen, was ich suche.
"Es gibt sicher eine Berechtigung für stationäres Einkaufen, und die Hälfte aller Kunden werden das bevorzugen. Aber die Hälfte reicht halt nicht aus, um die Infrastruktur des stationären Einzelhandels zu finanzieren."
Viele Anbieter setzen deswegen ja auf Personalisierung und lassen Algorithmen Angebote individuell zuschneiden. Können Maschinen wirklich komplexes und nicht selten unberechenbares menschliches Konsumverhalten antizipieren? Ist ein guter und vertrauenswürdiger Verkäufer nicht viel eher in der Lage, sich individuell auf Kunden einzustellen? Wenn ich einen Arzt suche, folge ich doch auch eher der Empfehlung eines Freundes als einem anonymen Online-Portal mit potenziell gefakten Bewertungen.
Es geht darum, dass sich der Kunde gut fühlt. Das geht mit persönlicher Beratung. Und das geht online, wenn der Kunde Vorschläge bekommt, die zu ihm passen. Und der Verkäufer sitzt nun mal zuhause nicht mit auf dem Sofa. Es gibt sicher eine Berechtigung für stationäres Einkaufen, und die Hälfte aller Kunden werden das bevorzugen. Aber die Hälfte reicht halt nicht aus, um die Infrastruktur des stationären Einzelhandels zu finanzieren – die Mitarbeiter, die Mieten und so weiter.
Welche Bedeutung haben Marken in einer digitalen Welt?
Wenn ich Produkte digital sichte, dann beschreibe ich zunächst mein Problem: „Bratpfanne – Induktion – Edelstahl“. Was dann kommt, ist für mich relevant. Und nicht mehr das, was ich sehe, wenn ich bei Karstadt die Treppe hochfahre – Fissler, WMF und so weiter. An der Rolltreppe ganz vorne platziert sein, das ist heute Amazon SEO. Dafür brauche ich keine Leute mehr, die den Karstadt-Zentraleinkauf betüdeln. Es ist nicht so, dass Marken keine Rolle mehr spielen. Aber wie man Marken managt, das wird sich komplett ändern.
Produkte werden ja nicht nur generisch gesucht und nach Amazon-Platzierung gekauft. Marken sind ja auch Orientierungshilfen, weil die Konsumenten damit bestimmte Qualitätseigenschaften verbinden. Und weil sie Prestige verleihen. Die Louis Vuitton-Tasche ist qualitativ nicht besser als manches Kaufhaus-Produkt. Aber sie hat einen Prestigewert und wird gekauft, weil das Logo drauf ist.
Das stimmt. Für solche Produkte gilt das wohl, aber im Commodity-Bereich wird die Differenzierung über Marken und die Flächendistribution sicher sehr viel schwieriger. Es werden zudem neue Marken entstehen, die in den Hometurf der etablierten Brands eindringen. Heute kann ich ja als Influencer über meinen Tiktok- oder Instagram-Kanal sehr leicht Produkte an meine Zielgruppe verkaufen. Das passiert ja auch schon. Nimm Bibis Shampoo, Pamela Reif oder Chiara Ferragni. Wenn man sieht, welche Resonanz die in ihrer Zielgruppe entfachen können, da wird es manchen klassischen Marken schon schwerfallen, mitzuhalten. Deshalb können die Louis Vuittons dieser Welt diese Kanäle nicht ignorieren. Es mag ihnen heute in den Cities noch gut gehen. Aber wenn die anderen großen Händler und Kaufhäuser dort ihre Tore schließen, dann wird die Frequenz auch für diese Läden dünner werden.
Wir haben noch gar nicht über Corona gesprochen! Es sieht so aus, als ob die Krise der Digitalisierung zusätzlichen Schub gibt.
Es stimmt. Wer vorher online schon gut drauf war, der profitiert. Das geht ganz klar zu Lasten derer, die nur stationär präsent sind. Wo soll der Umsatz sonst herkommen? Ja, ich sehe eine starke Verschiebung. Ich sehe auch eine nachhaltige Verschiebung.
Hat das die Bereitschaft der etablierten Player gefördert, sich nun auf den Weg in die digitale Welt zu begeben?
Da werden sicherlich nun vielerorts Projekte angeschoben, die aber nicht selten im alten Gefängnis von Läden, Wholesale und Vertriebsinteressen gefangen bleiben. Manchmal werden aber auch Dinge, über die man jahrelang nur diskutiert hat, jetzt einfach mal gemacht. Das ist auch richtig so. Die größte Veränderung passiert sicher auf Markenseite. Die denken jetzt verstärkt über Direktvertriebsstrategien nach. Wer den direkten Kundenkontakt nicht hat, wird degradiert zum Lieferanten, der seine Marge aus der Logistik ziehen muss. Das wäre der Einstieg in die Bedeutungslosigkeit.
Alexander Graf ist Herausgeber des Blogs Kassenzone und Gründer des Beratungsunternehmens eTribes sowie Gründer und Geschäftsführer des Softwareanbieters Spryker Systems. Er ist außerdem Autor zahlreicher Fachbeiträge und ‑bücher zur Strategie digitaler Geschäftsmodelle.