Trotz jüngster Insolvenz-Prognosen des HDE und des Vormarschs der Delta-Variante im Wettlauf mit der Impfquote, liegt eine Wiederöffnungs-Euphorie in der Luft. Bilder von Luftballons in den Händen fröhlich winkender Store-Mitarbeiter:innen an den leider tendenziell leeren Eingängen sind auf sozialen Medien schwer zu vermeiden.
Das ist erst einmal schön und gut für das Pandemie-geplagte Gemüt. Kombiniert mit der ebenso kalendarisch begünstigten Gefühlslage ist der eine oder andere Marktteilnehmer spürbar geneigt, das Ende des analog-digitalen Albtraums vor sich zu sehen. Und so schwingt auch ein wenig digitaler Frust und analoger Trotz in den LinkedIn-Posts manch eines Geschäftsführers mit. Um aber Trugschlüssen entgegenzuwirken und tektonische Marktbewegungen nicht zu unterschätzen, hier ein paar der wesentlichen im Schnelldurchlauf für die anstehenden Strategie-Runden:
1. Online dominiert den Markt. In China wird der Anteil des Online-Handels dieses Jahr vermutlich die 50%-Marke schaffen, in Deutschland ist man im Jahr 2020 ohne den spät erwachenden Lebensmitteleinzelhandel auf 18% Umsatz-Anteil gekommen, in einigen Kategorien sind es schon 40%. Tendenz über alle Segmente: weiter stark steigend. Die E‑Commerce-Marktdurchdringung in Deutschland betrug letztes Jahr bereits 83%. Strategien ohne digitalen Schwerpunkt kann man getrost ignorieren.
2. Plattformen dominieren Online. Plattformen sind die großen Gewinner des Digital-Booms, bei Kunden und Anlegern. Mehr als 50% des deutschen E‑Commerce stammt von Marktplätzen, 60% davon war schon vor der Pandemie bereits Amazon. Global ist Amazon allein im Jahr 2020 um ein komplettes Ebay, und in Q1 2021 um eine unvorstellbare Milliarde US-Dollar gewachsen. Pro Werktag. In Deutschland hat Amazon 75% des gesamten Online-Wachstums in 2020 ausgemacht. Aber auch Zalando, About You, Asos & Co. hatten einen Lauf. Zalando hat seine mittelfristigen Wachstumsziele gleich einmal auf 30 Mrd. Euro erhöht. Strategien ohne Plattform-Komponente sind keine.
3. D2C wird das dominierende Modell. Handels-Plattformen ersetzen weitestgehend den traditionellen Handel und werden zur Infrastruktur für den Produktverkauf. Dabei setzen die Plattformen zur Skalierung aber nicht auf das Geschäft mit eigenem Bestand, sondern vermieten ihren Kundenzugang an Verkäufer im Direct-To-Consumer Modell (D2C). Damit wird das Ende des Wholesales auch aus dieser Richtung beschleunigt und tradierte Hersteller stehen vor einer fundamentalen Änderung ihres Betriebsmodells. Wer D2C – ob über Plattformen oder eigene Touchpoints – nicht als zentrales Modell beherrscht, wird vom Markt verdrängt werden.
4. D2C wird zu C2M. Ein Blick auf den chinesischen Shooting-Star Shein (ausgesprochen She-In) zeigt neue Maßstäbe: Datensignale aus Social Media und Suchmaschinen werden innerhalb weniger Werktage in Produkte übersetzt und in kleinen Mengen per Drop über die App den hoch aktiven Usern angeboten. Der enorme Erfolg dieses „Realtime-Fashion“-Ansatzes bei jungen Kundinnen lässt die Nachhaltigkeits-Chöre trocken husten, zeigt aber das Potenzial des datengetriebenen D2C. In dieser Form heißt der Ansatz folgelogisch Consumer-To-Manufacturer (C2M), weil nicht Produkte zum Teil gegen die Nachfrage in den Markt gedrückt werden, sondern echte Nachfrage früh erkannt, ohne lange Vorläufe produziert und ohne fahrlässige Überhänge einer großen Kundenbasis zugänglich gemacht wird. Was weg ist, ist weg. Ein nachvollziehbar sinnvollerer Ansatz, der in geänderter Anwendung im Übrigen enormes Nachhaltigkeits-Potential für die Branche hat.
Moderner Handel ist mehr als reine Distribution. Es geht um wertstiftende Beziehungen für Kunden. Wer nur in Transaktionen denkt, hat im entscheidenden Erlebnis-Wettbewerb bereits verloren.
5. Mobile Betriebssysteme als neue Gatekeeper. Zeitgleich erhöhen die großen Tech-Plattformen, allen voran die mobilen Betriebssysteme von Apple und Google, weiter die Schutzmauern um ihren Kundenzugang. Und sie erschüttern unter dem neu entdeckten Leitmotiv des Daten- und Nutzerschutzes im Vorbeigehen den Werbemarkt. Dabei dürfte die anstehende Abschaffung von Cookies im Chrome-Browser sowie der Schutz vor seitenübergreifendem Tracking und der Dynamisierung von Email-Inhalten bei Apple erst der Anfang sein. Google hat jüngst angekündigt, komplette Inhalte von Webseiten, aber auch Podcasts und Videos suchbar zu machen. Damit werden dann nahezu restlos alle digitalen Inhalte auf Google verfügbar. Google dankt für die Inhalte, aber Traffic gibt es dafür nicht. Der einzige, wenngleich anspruchsvolle Weg raus aus der Falle ist, als Marke so stark zu sein, dass User die Brand-Website direkt ansteuern.
6. Marke und eigene Daten sind alles. Neben Plattformen zählen Marken zu den möglichen Profiteuren der Entwicklungen. Im Windschatten von Social Media- und Plattform-Dynamik sind unzählige „digital native-Marken“ entstanden, die in der alten Welt keine Reichweite und vor allem keine Distribution gefunden hätten, heute aber den Markt in Bewegung halten. Moderner Handel ist aber mehr als reine Distribution, es geht um wertstiftende Beziehungen für Kunden. Wer in Transaktionen denkt, hat im entscheidenden Erlebnis-Wettbewerb bereits verloren. Und mit Erlebnis ist nicht der Feuerspucker am Eingang oder Ähnliches vom Sortiment Losgelöstes gemeint. Das ist, neben kommerziellen Aspekten, der Grund auch für viele etablierten Marken, voll auf D2C zu setzen. In einer weitgehend kommodifizierten Produktwelt entscheidet die Strahlkraft der Marke und die ganzheitliche Qualität des Erlebnisses mit der Marke, ob man im Relevant-Set der Zielgruppe ist oder eben nicht. Klingt wie eine Binse, ist es aber nicht.
7. Wertstiftende Andersartigkeit als Gegenangebot. Bei aller Dominanz hat Amazon 2020 in den USA zum ersten Mal in seiner Geschichte Marktanteile verloren. Und zwar vor allem an Shopify, der Shop-Technologie vieler kreativer D2C-Player. In ihrem auf Breite, Volumen und Effizienz optimierten Ansatz kreieren Plattformen zwangsläufig unbediente Vakuen. In Customer-Experience und Spezialisierung liegen wahrscheinlich die größten Einfallstore für Wettbewerber. Same same but different reicht aber nicht. Mut zum Profil und echte, No-Bullshit-Kundenzentrierung ist gefragt. Die gute Nachricht ist: an digitaler Technologie wird es zumindest nicht scheitern. In diesem Sinne: Just do it.
Stefan Wenzel ist seit 22 Jahren im digitalen Handel unterwegs und gehört zu den profiliertesten Köpfen der Branche. Seine Vita beinhaltet u.a. Stationen als Geschäftsführer für Unternehmen wie Ebay, brand4friends, Otto, Mexx und Tom Tailor Digital. www.stefanwenzel.com