Menschen kaufen jenseits des täglichen Bedarfs in der Regel nicht einfach nur Produkte – sie haben eine Mission, einen Zielzustand, den sie erreichen wollen. Produkte sind Mittel zu diesem Zweck, nicht der Zweck an sich. Wer Wandfarbe kauft, will sein Zuhause verschönern, vielleicht sogar sein Leben verändern. Wer einen Blazer kauft, will gut aussehen, möglicherweise Kompetenz oder Erfolg ausstrahlen. Diese "jobs to be done" sind der eigentliche Motor hinter vielen Konsumentscheidungen.
Für den Handel ist es schwierig, diese Missionen zu erkennen und darauf einzugehen, nicht zuletzt wegen der Vielfalt der Bedürfnisse. Offline ist das ohnehin schwierig, doch auch online reagiert man auf die nicht verstandenen Missionen bislang hauptsächlich mit unendlichen Sortimenten in endlosen virtuellen Regalen – das Prinzip des Dynamit-Fischens.
Die Folgen? Enorme Streuverluste, geringe Sortimentsproduktivität und eine User-Experience, die jenseits der hübsch gestalteten Startseiten oft eher frustrierend als hilfreich ist. Die hohen Sortimentskosten werden dabei durch Marktplatzerweiterungen an Dritte ausgelagert, die Kuration an den Nutzer delegiert. Der muss sich durch Filter, Sortierungen und lange Listen kämpfen, um am Ende immer noch vor einem Berg kaum unterscheidbarer Artikel zu stehen. Wer das nicht glaubt, suche auf der Plattform seines Vertrauens nach einer blauen Damenbluse.
Doch unser Gehirn bevorzugt den Autopiloten. Es versucht, Denkarbeit zu vermeiden und Entscheidungen zu vereinfachen. Je mehr die Suchergebnisse in Shops von unserer Fähigkeit abhängen, Filter richtig zu setzen und Ergebnisse zu interpretieren, desto größer ist die Gefahr, dass wir einfach nichts kaufen, um eine mögliche Fehlentscheidung zu vermeiden.
Um dieses Problem zu lösen, galt unter anderem Personalisierung lange als die Wunderwaffe des digitalen Handels. In der Praxis hat sich jedoch wenig getan. Im weltweiten Durchschnitt hat sich der Anteil der Nicht-Käufer in den letzten 20 Jahren von miserablen 98% um lediglich zwei Punkte auf immer noch schlechte 96% verbessert. Die Gründe dafür sind vielfältig, liegen aber unter anderem in der Qualität der Produktdaten und der mangelnden Fähigkeit der Shops, daraus wirklich überzeugende Nutzererlebnisse zu kreieren.
Künstliche Intelligenz schickt sich an, in einem weiteren Bereich die Ineffizienzen des Handels zu reduzieren: dem Finden und Auswählen der richtigen Produkte, der richtigen Hilfe für unsere „jobs to be done“.
Technologische Disruption entsteht oft als Antwort auf Ineffizienzen. Das ist einer der Gründe, warum wir heute Musik-Kataloge streamen, statt Regale mit einzelnen Vinyls zu füllen, unsere Bankgeschäfte 24/7 von zu Hause aus erledigen und Nachrichten auf dem Smartphone immer aktuell konsumieren, statt vom Vortag in der Zeitung vom Kiosk. Die erste Phase der Digitalisierung hat bereits einige Ineffizienzen im Handel reduziert – wenn auch vor allem in der Abwicklung: Technologie hat den mühsamen Weg zum begehbaren Lager in der Innenstadt, das Picking durch die Kunden, das Warten an der Kasse und die Logistik der letzten Meile mit Tüten in der S‑Bahn obsolet gemacht.
Künstliche Intelligenz schickt sich nun an, in einem weiteren Bereich die Ineffizienzen des Handels zu reduzieren: dem Finden und Auswählen der richtigen Produkte, der richtigen Hilfe für unsere „jobs to be done“. Ein erster Schritt in diese Richtung ist der viel diskutierte Shopping-Pilot von Perplexity in den USA. Die KI-basierte Suchmaschine versteht komplexe Suchanfragen, kombiniert verschiedene KI-Modelle und verarbeitet visuelle Anfragen über hochgeladene Bilder. Sie durchforstet das Netz, extrahiert sämtliche verfügbaren Informationen und liefert kontextbezogene Empfehlungen. Damit Nutzer Perplexity nicht verlassen müssen, ist die Kaufoption samt Check-out direkt integriert.
Es geht aber nicht um Perplexity und wie wenig diese ersten Versionen vielleicht beeindrucken. Weitere KI-Modelle und Anbieter werden folgen, die Qualität der Ergebnisse und die Umsetzungen werden besser werden. Entscheidend ist vielmehr die grundsätzliche Fähigkeit von KI, unsere „jobs to be done“ zu verstehen und komplexe, mehrdimensionale Lösungen als Antwort darauf zu geben. Wer beispielsweise seine Stimmung aufhellen will, dem empfiehlt KI ein Wochenende im Bayerischen Wald, ein Wellnesshotel am Tegernsee und passende Johanniskraut-Präparate. Aber auch bei einfachen Produktsuchen kann KI unstrukturierte Produktdaten besser verarbeiten, sämtliche verfügbaren Informationen, Testberichte und Expertenmeinungen in die Empfehlung einfließen lassen.
Solange Anbieter wie Perplexity die benötigte Ergebnisqualität schaffen und als neutral genug wahrgenommen werden, haben sie mit diesen Fähigkeiten einen erheblichen Vorteil gegenüber klassischen Produktdaten-Suchmaschinen und Online-Shops, deren Suchtechnologien schon heute an der wachsenden Menge an Marktplatz-Angeboten und den vorhandenen Produktdaten scheitern. Ironischerweise geschieht dies zu einer Zeit, in der Retail Media als großer Branchentrend den Lärm in den bereits nur bedingt hilfreichen Shops mit immer mehr Bezahlwerbung noch unübersichtlicher macht. Quasi ein Gegenentwurf zum Kundenwunsch nach mehr Signalen statt mehr Lärm.
Vielleicht gar nicht so weit weg ist eine Zukunft, in der persönliche KI-Assistenten der Kunden mit Händlern Verfügbarkeiten und Konditionen aushandeln.
Doch die Entwicklung geht weiter. KI wird nicht nur den Einkauf von Produkten ermöglichen, sondern auf Wunsch werden KI-Agenten über sogenannte Aufgabenketten („Task-Chains“) gleich die komplette Urlaubsplanung übernehmen – inklusive Hotelbuchung, Routenplanung, Kalendereinträgen und Taxibestellung bis hin zur Abwesenheitsnotiz in Outlook. Die technischen Bausteine dafür sind bereits vorhanden, und die Betriebssysteme auf dem Smartphone werden zudem alles daran setzen, als persönlicher Agent oberhalb von KI-Suchen und Sprachmodellen neue, eigene Gräben um den Nutzer und seine Missionen herumzuziehen.
Ist das das Ende des Handels? Wahrscheinlich nicht, aber vielleicht das Ende des Dynamit-Fischens. KI-Suchen und ‑Assistenten stellen eine neue Konkurrenz für die bisherige Produktsuche dar und bedrohen damit einen wichtigen Teil der Wertschöpfung im Handel – auch die Erlöse von Retail Media, denn weniger Traffic bedeutet weniger Werbeinventar. Je größer und undifferenzierter das Sortiment eines Händlers, je schlechter die Orientierung für den Nutzer, desto größer die Angriffsfläche für KI-Suchen. Und je tiefer die Integration von Handel in KI-Dienste („Buy with Perplexity Pro“, Apple Intelligence, Google Gemini et al.), desto größer das Risiko für die Wertschöpfung im Handel.
Utopisch, aber vielleicht gar nicht so weit weg ist eine Zukunft, in der persönliche KI-Agenten mit Händlern Verfügbarkeiten und Konditionen aushandeln und Verträge abschließen. System zu System, ähnlich den elektronischen Handelssystemen der Börsen, ohne dass ein Shop als Frontend überhaupt involviert ist und damit auch KI-Agenten zur Zielgruppe der Händler und deren CRM werden.
Teile des Handels haben die Digitalisierung bereits verschlafen, das Ergebnis kennen wir. Künstliche Intelligenz dürfte einen noch größeren Einfluss haben.
Aber zurück zur Gegenwart: Gegen die Bedrohung helfen Bewegung und Innovation, und der Handel hat Handlungsmöglichkeiten. Das Spektrum reicht von der Optimierung und Verbreitung der eigenen Daten, damit das eigene Angebot von den verschiedenen KI-Modellen erkannt und im Idealfall als relevant eingestuft wird, über Kooperationen mit KI-Anbietern bis hin zur Schaffung echter Mehrwerte am eigenen Frontend durch den Einsatz von KI oder sogar Low-Tech durch manuell erstellte, trennscharfe Konzepte.
Anders als bei Personalisierung oder den KI-Piloten aus Berlin und Hamburg braucht es aber echte Mehrwerte für den Nutzer. Entscheidend ist nicht, dass etwas getan wird, sondern wie. Der ehemalige Buchhändler aus Seattle hat übrigens letzte Woche unter dem Namen Amazon Nova eine KI-Großoffensive als Ökosystem vorgestellt, das eigene Grundlagenmodelle, günstigere KI-Chips, Supercomputer und das weltweit größte verteilte KI-Rechencluster umfasst.
Teile des Handels haben die Digitalisierung bereits verschlafen, das Ergebnis kennen wir. Künstliche Intelligenz dürfte einen noch größeren Einfluss auf Wirtschaft und Gesellschaft haben. Während in Deutschland derzeit rund 20 Prozent der Handelsunternehmen Künstliche Intelligenz nutzen, sind es in den USA bereits über 40 Prozent und bei den Großunternehmen über 60 Prozent. Es lohnt deshalb, in eine angemessene Vorwärtsbewegung zu kommen und die Zukunft zu gestalten, statt von ihr weiter abgehängt zu werden.
Stefan Wenzel ist seit mehr als 20 Jahren im Digitalen Handel und einer der profiliertesten Köpfe der Branche. Seine Vita beinhaltet unter anderem Stationen als Geschäftsführer für Unternehmen wie Ebay, brand4friends, Otto, Mexx und Tom Tailor Digital. Stefan Wenzel unterstützt Firmen, Gründer und Geschäftsführer als digitaler Beirat, ist regelmäßiger Sprecher auf Fachkonferenzen, Interview- und Podcast-Gast. www.stefanwenzel.com