
Das Thema, das wenig überraschend die Lufthoheit bei der diesjährigen K5 hatte, war Künstliche Intelligenz (KI). Was aber dann vielleicht doch etwas überraschend war, war die Stimmung rund um das Thema. Es gibt eben noch keine Masterpläne und tiefgreifende Case Studies, keine Best Practices, sondern eine kollektive, sympathische Unsicherheit – und das in einer Szene mit hoher Neophilie-Dichte. Denn zum ersten Mal seit Langem ist im Grunde unklar, was alles kommt. Vor allem ist unklar, wann, wie und mit welcher Konsequenz es kommt.
Klar ist nur: Es kommt Großes und Grundsätzliches und es kommt schnell. Viele ahnen, dass das, was wir Digitalisierung nannten, dagegen in der Rückschau wie ein müdes Aufwärmprogramm wirken wird. Und je nach individuellem Informations- und Durchdringungsgrad sowie der Position in der persönlichen Change-Kurve fallen die Reaktionen darauf in ein Spektrum von euphorischem Optimismus oder Aktionismus über Abwarten bis hin zu Abwinken samt trotzigem Verweis auf die unveränderte Wichtigkeit von Fulfillment und operativer Exzellenz.
Ein Bild, das auf der K5 die Runde machte, zeigte die Thomas W. Lawson, einen Siebenmaster, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Reaktion der Segelschifffahrt auf die damals neuartigen Dampfschiffe entwickelt wurde. Die Lawson lief 1902 vom Stapel und 1907 auf Grund. Die unangenehme Frage lautet: Werden nach dem stationären Handel jetzt auch erstmalig die digitalen Erfolgsmodelle der letzten 20 Jahre zum Siebenmaster des Handels?
Wenn in fünf Jahren weniger als 40 Prozent des Web-Traffics menschlich sind und gleichzeitig KI-Agenten als völlig neue Spezies 30 Prozent des Traffics ausmachen, die keine Interfaces mehr benötigen, sondern über Schnittstellen einkaufen, stellt sich die Frage: Wie finden die verbleibenden Menschen und die neuen Agenten dich? Und was passiert mit deinem Shop, der für Menschen konzipiert wurde, aber von Maschinen genutzt wird?
Zugleich bröckelt auch das Fundament der bisherigen Reichweitenökonomie. Google ersetzt blaue Linklisten zunehmend durch KI-generierte, umfängliche Antworten. Traffic aus Suchverkehr sinkt, während die Anforderungen an Inhalte steigen. Qualität, Relevanz, Autorität – und das nicht nur für Menschen, sondern auch für KI-Agenten. Die 30-jährige Ära der Suchmaschinen-Trickserei neigt sich dem Ende.
Was bislang an technischen Möglichkeiten und hohen Kosten gescheitert ist, wird nun möglich. Content und Experience sind keine Budgetfrage mehr, sondern eine Frage der KI-Architektur und ‑Nutzung. Damit rückt Kreativität wieder an die richtige Stelle: ins Zentrum.
Die rasante Evolution von KI-Suchen zu digitalen Besserwissern für alle Themen und Probleme, die mit KI-optimierten Produktdaten zur eigenen semantischen Anreicherung sowie mit Echtzeit-Preisen und ‑Beständen via Schnittstelle gefüttert werden (wie von Shopify bereits auf dem Markt angeboten) und die eine vertikale Integration von Check-out und Zahlung beinhalten (wie bei Perplexity Shop et al.), bedeutet, dass neue „Über-Plattformen“ entstehen. Diese nagen am Geschäftsmodell der Handelsplattformen, bekanntlich einem Modell, das seinerseits dem klassischen Handel und den Herstellern in den letzten 20 Jahren erst den Kundenzugang abgenommen und dann zurückvermietet hat.
In Kombination mit einem völlig neuen Kampf um den unmittelbaren Kundenzugang, bei dem Betriebssysteme (Apple, Google) mit KI-Geräteherstellern (Meta-Brillen, OpenAI mit Jony Ive et al.), KI-Browsern (Opera One, Dia et al.) sowie KI-Agenten um die Nutzer kämpfen, stoßen die eigene Strategie und das bisherige Geschäftsmodell an ihre Grenzen. KI wird sich zwar positiv auf alle Schritte in der Wertschöpfungskette und alle Positionen in der Gewinn- und Verlustrechnung auswirken. So erfreulich verbesserte Produktivität und operative Exzellenz auch sind, das Geschäftsmodell der allermeisten hängt am eigenen Kundenzugang und der steht unter völlig neuem Druck.
Wer sich von Gelerntem löst und stattdessen nach neuen Lösungen für Kundenprobleme im Zeitalter von KI sucht, kommt auf neue Ansätze. Eine auf der K5 diskutierte Antwort lautet: Dynamic Commerce. Kein neuer Begriff, aber eine neue Perspektive. Handel als KI-native Anwendung, KI als Basis und Handel als App darüber. Abgelöst wird der fixe Shop als digitaler Katalog mit Filter-Listen und austauschbaren Templates. An dessen Stelle kommt eine wirklich individuelle Experience in Echtzeit, die aus Kontext, Verhalten und Präferenzen generiert wird – zu marginalen Grenzkosten. Content wird zur Infrastruktur, Experience wird dynamisch.
Was bislang an technischen Möglichkeiten und hohen Kosten gescheitert ist, wird nun möglich. Content und Experience sind damit keine Budgetfrage mehr, sondern eine Frage der KI-Architektur und ‑Nutzung. Damit rückt Kreativität wieder an die richtige Stelle: ins Zentrum. Differenzierung durch Exzellenz muss sich also nicht mehr auf Fulfillment beschränken oder in Branding-Kampagnen vorgegaukelt werden, sondern kann vor allem auch auf der Erlebnisebene gegen die neuen Über-Plattformen antreten. Denn eine hochspezialisierte und optimierte User Experience wird auch in Zukunft ein effektiver Burggraben gegen horizontale Generika sein und Kunden organisch binden.
Wer nicht KI-nativ auf einer grünen Wiese startet, steht höchstwahrscheinlich vor der bislang größten Transformation. Diese muss als Chefsache erkannt und geführt werden. Sie muss aber auch finanziert und von Menschen gestaltet werden. Insofern ist es schade, dass so wenige CFOs, HR-Verantwortliche und Aufsichtsräte den Weg zur K5 fanden, um sich mit der Zukunft auseinanderzusetzen, bevor sie von ihr überrollt werden. Aber vielleicht spricht es sich ja herum: Die nächste K5 findet am 23./24. Juni 2026 in Berlin statt.
Stefan Wenzel ist seit mehr als 20 Jahren im digitalen Handel und einer der profiliertesten Köpfe der Branche. Seine Vita beinhaltet unter anderem Stationen als Geschäftsführer für Unternehmen wie Ebay, brand4friends, Otto, Mexx und Tom Tailor Digital. Stefan Wenzel unterstützt Firmen, Gründer und Geschäftsführer als digitaler Beirat, ist regelmäßiger Sprecher auf Fachkonferenzen, Interview- und Podcast-Gast. www.stefanwenzel.com