Können Sie noch Corona? Ich meine, halten Sie das „neue Normal“ weiterhin aus? Ich muss zugeben, dass ich zum Jahresende an meine Grenzen gestoßen bin. Nicht nur, weil mich Anzeichen einer Masken-Akne beunruhigen, mir das Tête-à-Tête beim Italiener fehlt und ich viereckige Augen von Zoom-Meetings bekomme. Das alles gehört ja eher in die Kategorie „Leiden auf hohem Niveau“. Nervig aber auszuhalten. Nein, es ist dieser monatelange Standby-Modus, der mich schlaucht, das in Dauerschleifen rotierende Unterbewusstsein.
Das schreit nach Ablenkung. Mit Arbeit, klar. Mit meiner Liste auf Netflix, zig Podcasts, inklusive der eigenen und mit neuen Hobbys wie … Wein. Nicht zu vergessen: das Grübeln über Themen, die stärker als bisher in meine Bubble vorgedrungen sind. Denn wenn es überhaupt eine konstruktive Seite dieser Viruskatastrophe gibt, dann, dass bereits zuvor bestehende Seltsamkeiten und Missstände unübersehbar wurden. Für den eigenen Seelenfrieden daran vorbeischielen? Keine Chance.
Da fällt jetzt sicher jedem etwas anderes ein. Mir geht die China-Abhängigkeit der Luxusgüter-Industrie nicht mehr aus dem Kopf. Ausgelöst weniger durch akademischen Ehrgeiz, sondern meinen Job, für den ich während des ersten Lockdowns und später viele Interviews mit CEOs und Topmanagern der Branche geführt habe. Was mir dabei wieder und wieder auffiel, ließe sich zu folgender Szene verdichten. Die sich, Transparenz geht vor, natürlich exakt so nie ereignet hat. Den Kern dieser Gespräche trifft sie dennoch recht genau. Webcam ab!
Wie verändert es Mode, Accessoires, Düfte, Uhren und Schmuck, wenn sie einzig durch Zuspruch aus und in China profitabel sein können?
Ein Video-Anruf mag viele Facetten unserer Kommunikation emotional entkoppeln, die vibes eines persönlichen Gegenübers in Nullen, Einsen und HD-Pixel auflösen und Menschen schwerer zu lesen, zu durchschauen machen. Doch es besteht kein Zweifel: Meinem Gegenüber rollen Schweißperlen von der Stirn in Richtung Augenbraue. Gleichzeitig steigen vom Hals hektische rote Flecken über den Hemdkragen zum Kinn. Nein, sagt der Lenker einer Luxusmarke, manchmal wisse er auch nicht weiter in diesem Ausnahmejahr. Eine Achterbahnfahrt aus Improvisation, Transpiration, Depression, Innovation, Insolvenz…ation? Die Boutiquen zu, die E‑Commerce-Strategie weit entfernt davon, marktreif oder profitabel zu sein, und die Agenda voller Baustellen wie der Maskenbeschaffung für die Mitarbeiter. Auf Alibaba.com wäre er da immerhin jetzt fündig geworden. Die Bilanz für die Regionen DACH und EMEA? Er mag kaum daran denken, klammere sich an ein maximales Minus von 30 Prozent. Wie Leo DiCaprio an den auf Eiswasser dümpelnden Türrahmen in „Titanic“.
Und dann fängt das im Laptop verbaute Objektiv plötzlich ein ungewohntes Bild ein. Die Mundwinkel meines Interviewpartners wandern nach oben. Ein Lächeln, mitten in der Krise? Ich höre genauer hin: „… und als dann in Schanghai die ersten Läden und Malls wieder öffneten …“ Es geht offenbar um China. „… war rasch klar, dass wir mit einem blauen Auge davonkommen würden.“ Blaues Auge? „Da geht es jetzt schon wieder ordentlich aufwärts, an manchem POS liegen wir deutlich über Vorjahr.“ What?
Man mag mein Erstaunen ob des „Wenn China läuft, läuft‘s insgesamt“-Mantras naiv finden. Schließlich spült die Volksrepublik im Retail auf eigenem Boden und durch Auslandsshopping ihrer Mittel- und Oberschicht seit Jahren beträchtliche Summen in die Kassen der Luxuskonzerne. Bis 2025 wird ihr Anteil am weltweiten Umsatz bis zu 50 Prozent betragen und schon jetzt sorgt China für zwischen 60 und 90 Prozent des jährlichen Wachstums. Das Wegbleiben chinesischer Touristen seit Beginn des Jahres hat zwar in Italien, London, New York und anderswo für leere Boutiquen gesorgt, dafür stieg der heimische Konsum edler Waren.
Nach Einschätzung von Bain wird China als Markt für Luxusprodukte das Krisenjahr 2020 mit einem Zuwachs von bis zu 48% abschließen, befeuert nicht zuletzt durch die große demografische Gruppe der Millennials und der Generationen Y und Z, die 500 Millionen Chinesen umfasst. Hinzukommt, und das beruhigt die CEOs sichtlich, dass manches Luxushaus bis zu 80 Prozent seines Umsatzes mittlerweile in Asien, vor allem in China erzielt. Dort also, wo die ersten Bürger schmerzvoll um Luft rangen – und dann die Wirtschaft – rutschten in der Betrachtung manches Controllers bereits wieder Einhörner über Regenbögen hinein in einen Topf voll mit Gold. Oder Bitcoin, oder so.
Wird die It-Bag bald das Schicksal der Kuckucksuhr teilen, die in alle Welt exportiert wird, aber in ihrer Heimat kaum noch jemand an der Wand (bzw. am Unterarm) hängen hat?
Was mich jenseits aller Zahlen umtreibt, ist nicht allein die Nachfrage-Dominanz einer einzigen gigantischen Nation im Bereich der Luxusgüter, sondern die vielen damit zusammenhängenden Fragen, auf die ich keine befriedigenden Antworten finde. Darum möchte ich sie hier stellen, als eine Art mentales Crowdsourcing:
Zunächst: Ist es eigentlich schlimm, wenn Brands – rein geschäftlich betrachtet – bloß noch eine Klientel und einen Markt im Fokus haben müss(t)en. In der Kollektionsgestaltung, im Marketing, bei strategischen Überlegungen… Angebot folgt Nachfrage, also alles pikobello, oder? Einmal abgesehen vom hohen Risiko, dass eine ausgedehnte Durststrecke in China etliche Häuser bis in die Grundfesten erbeben lassen würde!
Und kreativ? Wie verändert es Mode, Accessoires, Düfte, Uhren und Schmuck, wenn sie einzig durch Zuspruch aus und in China profitabel sein können? Oder müssen Produkte im Gegenteil sehr europäisch bleiben, weil chinesische Käufer diesen für sie exotischen Glam favorisieren?
Was passiert eigentlich, wenn mit dem Erstarken des nationalen Tunnelblicks plötzlich Luxus en vogue wird, der in China entworfen und gefertigt wird, von inländischen Nobelmarken? Bei amerikanischen Brands kann man diese Abkehr vom Westen bereits beobachten und messen …
Umgekehrt muss die Frage erlaubt sein, wie es sich mit den politischen Aspekten des euphorischen Engagements in China verhält, wo sich Unternehmen doch zunehmend als über jeden Zweifel erhabene, aufgeklärte Verantwortungsträger zu geben versuchen. Verträgt sich das mit eher zweifelhaften Regierungshandlungen – Stichwort: Hongkong – oder lautet die Devise „Schwamm drüber, weil lukrativ“?
Wird die It-Bag französischer und italienischer Provenienz bald das Schicksal der Kuckucksuhr teilen, die Touristen liebend gern in ihre Heimat mitnehmen, die aber hierzulande kaum noch jemand an der Wand hängen hat? Oder eben am Unterarm. Schon jetzt sind die Marketingetats vieler Marken deutlich auf Fernost gepolt, dass es nur logisch wäre, wenn so stiefmütterlich umworbene Kunden sich umorientierten. Non?
Wenn die Big Four oder Five mit China beschäftigt sind und vom dortigen Wachstum leben, schlägt dann die Stunde neuer local luxury heroes?
Ebenso spannend: Während die Big Four oder Five auf Wachstum in China setzen, schlüge doch vielleicht die Stunde neuer local luxury heroes? Nicht bloß in der Nische, sondern als richtig großes Kino, meine ich. Ja, da gibt es natürlich etliche Traditionshäuser, Manufakturen und Ateliers. Vielmehr: noch. Denn im medialen Rauschen der Top 10 gehen viele von denen schlicht unter. Insbesondere bei den jungen Zielgruppen, die auf zig Plattformen bespaßt werden wollen – oder eben keine Notiz von alternativen Luxusofferten nehmen. Ein unfaires Rennen mit ungleichen Möglichkeiten und Budgets. Auch ganz ohne Coronakrise.
Oder sind sämtliche Überlegungen müßig, weil die E‑Kommerzialisierung und digitale Transformation ohnehin dafür sorgen werden, dass ein einziger staatenübergreifender Luxus-Web-Markt entsteht, bei dem Herkunft, Produktion und lokale Besonderheiten passé sind? Same, same, und eben nicht mehr different? Hier käme theoretisch auch das alte Europa wieder stärker per Mausklick zum Zug. Wobei zunehmend (limitierte) Editionen und Capsule Collections außerhalb Chinas gar nicht erst angeboten werden. Eine Zwei-Klassen-Luxusgesellschaft. Egal ob on- oder offline.
Viele Fragen, und ich fühle mich fast schuldig, keine hübsch verpackten Antworten überreichen zu können. Sorry. Dennoch dringend überlegenswert und unter Umständen überlebenssichernd. Da braucht man nicht auf das kürzliche Cover des „Stern“ mit dem Stinkefinger-Drachen zu schauen. Wir und China, diese Beziehung besitzt alle Qualitäten, zu einer Telenovela voller dramatischer Zuspitzungen und cliff hanger…
Siems Luckwaldt ist seit rund 20 Jahren ein Experte für die Welt der schönen Dinge und ein Kenner der Menschen, die diese Welt möglich machen. Ob in seinem aktuellen Job als Lifestyle Director von Capital und Business Punk, für Lufthansa Exclusive, ROBB Report oder das legendäre Financial Times-Supplement How To Spend It.
Oder seinem eigenen Medium LuxusProbleme. Alle zwei Wochen in Ihrer Inbox: seine Sicht auf News und Trends der Branche, aufs moderne Arbeitsleben und Phänomene der Popkultur. Wortgewaltig, pointiert, höchstpersönlich. Und das zu einem gar nicht luxuriösen Preis, nämlich ab 4 Euro pro Monat. Werden Sie jetzt Teil einer extrem attraktiven, hochbegabten Community. Hier geht es direkt zum Abo.