Passiert large

Zeitenwende

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Jür­gen Mül­ler

„Ich weiß nicht, aber die­ser Bei­trag ist selt­sam… wäh­rend du Nudeln isst und Bil­der pos­test, ist dei­ne Fami­lie in der Ukrai­ne und betet für Frie­den. Das ist völ­lig unan­ge­bracht.“ Im ers­ten Moment reagier­te Viky Rader auf die Kri­tik einer Fol­lo­we­rin an ihrem Lunch-Foto noch schnip­pisch („Soll ich auf­hö­ren zu essen?“). Doch dann hat sich die in der Ukrai­ne gebo­re­ne Influen­ce­rin doch ent­schie­den, ihre Zel­te in Mai­land abzu­bau­en, wo sie am Tag davor noch bei Max Mara im sexy Leo-Out­fit und bei Pra­da in abge­wetz­ter Leder­ja­cke und Mini­rock posiert hat­te. Seit­dem pos­tet Rader, deren Eltern in der Ukrai­ne aus­har­ren müs­sen, täg­lich Soli­da­ri­täts­adres­sen und Frie­dens­auf­ru­fe. Dass die­se ihr zehn­mal so vie­le Likes ein­brin­gen wie üblich, zeigt, was die Leu­te zur­zeit wirk­lich bewegt.

Der ver­bre­che­ri­sche Angriff auf die Ukrai­ne lässt uns alle fas­sungs­los daste­hen, und wir wis­sen nicht, wie wir damit umge­hen sol­len. Vie­les erscheint ent­setz­lich pro­fan ange­sichts der Tra­gö­die, die sich kei­ne zwei Flug­stun­den von Ber­lin ent­fernt abspielt. Das gilt auch und gera­de für unser Metier, das in guten Zei­ten das Leben ver­schö­nert und in schlech­ten Zei­ten – bru­tal gesagt – über­flüs­sig erscheint.

Viel­leicht ist es da eine gute Idee, wie die TW „Ohn­macht“ zur ukrai­ni­schen Flag­ge zu titeln. In einer „nor­ma­len“ Woche hät­ten der Abgang von Hugo Boss-Vor­stand Ingo Wilts, die Gerüch­te um einen Ralph Lau­ren-Ver­kauf, Ama­zons Laden­schlie­ßun­gen oder die Rekord­bi­lanz von Zalan­do für Gesprächs­stoff gesorgt. Man hät­te gespannt auf die Mai­län­der Pre­mie­ren von Mat­thieu Bla­zy für Bot­te­ga Vene­ta und Glenn Mar­ten für Die­sel geschaut und sich über die Adi­das-Anzü­ge von Guc­ci amü­siert.

Wo Gut und Böse so eindeutig geklärt sind, fällt Position beziehen nicht schwer. Mit einem Post auf Instagram lässt sich billig Applaus ernten. Schwieriger wird es, wenn konkret gehandelt werden muss.

In Mai­land hat­ten die Mode­ma­cher den Krieg noch igno­riert. Nur Arma­ni reagier­te am Sonn­tag, indem er bei sei­ner Show die Musik abdre­hen ließ. Inzwi­schen gibt es kaum Unter­neh­men, Mar­ken oder Mana­ger, die sich nicht zum The­ma geäu­ßert und Posi­ti­on bezo­gen hät­ten. Wo Gut und Böse so ein­deu­tig geklärt sind, fällt das nicht schwer. Mit einem ent­spre­chen­den Post auf Insta­gram lässt sich bil­lig Applaus ern­ten. Schwie­ri­ger wird es, wenn kon­kre­te Maß­nah­men ergrif­fen wer­den müs­sen.

Aber auch das pas­siert. So fah­ren etli­che Unter­neh­men ihre Russ­land-Akti­vi­tä­ten zurück. Teils not­ge­drun­gen, weil – wie Ger­man Fashion-Prä­si­dent Gerd Oli­ver Sei­den­sti­cker im TW-Inter­view kon­sta­tiert – dort sowie­so nichts mehr gehen wird. Teils aus Ver­ant­wor­tung und Angst um die Mit­ar­bei­ter vor Ort. Nicht zuletzt setzt der Krieg die durch Coro­na eh schon ange­spann­ten glo­ba­len Logis­tik­ket­ten wei­ter unter Druck, wovon auch Unter­neh­men betrof­fen sein wer­den, die mit Russ­land oder der Ukrai­ne ansons­ten nichts zu tun haben.

Zugleich wächst der mora­li­sche Druck, die Ukrai­ne zu unter­stüt­zen und sich vom Putin-Regime öffent­lich abzu­gren­zen. Das hat man bei der Abbe­ru­fung des Münch­ner Chef­di­ri­gen­ten Valery Ger­giev gese­hen, wo die Can­cel Cul­tu­re ein neu­es Motiv gefun­den hat. Der gesell­schaft­li­che Druck wird auch Unter­neh­men zum Han­deln zwin­gen, selbst wenn es gegen deren wirt­schaft­li­che Inter­es­sen geht.

Die Zei­ten­wen­de, die der Kanz­ler im Bun­des­tag ver­kün­de­te, rückt ande­re The­men auf die Agen­da und wird auf unab­seh­ba­re Zeit Prio­ri­tä­ten ver­schie­ben. Die Poli­tik redet einst­wei­len nicht mehr über Kli­ma­wan­del, son­dern über Ver­sor­gungs­si­cher­heit und Auf­rüs­tung. In den Talk­shows ver­drän­gen Gene­rä­le die Viro­lo­gen. Und die CEOs wer­den weni­ger Zeit in Diver­si­ty-Work­shops ver­brin­gen und dafür mehr Auf­merk­sam­keit ihren Markt­ver­ant­wort­li­chen, den Con­trol­lern, Risi­ko­ma­na­gern und Ban­kern wid­men müs­sen.

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