Hätte man die über 1000 Teilnehmer des Deutschen Handelskongresses diese Woche nach dem Wort des Jahres gefragt, so hätten sie "Krise" gewählt. Auf dem Podium war gar von Multi-Krise oder Poly-Krise die Rede. Manche mutmassten, dass die Krise nie mehr weg geht. So wie das Internet. Oder das Klima. In den Kaffeepausen zeigten sich einige mit den Geschäften der vergangenen Monate indes gar nicht mal so unzufrieden. In vielen 22er Bilanzen wird sich die Krise allenfalls andeuten.
Tatsächlich ist die Krise vor allem eine Erwartung. Wirtschaft mag Ludwig Erhard zufolge zu 50 Prozent Psychologie sein. Die anderen 50 Prozent haben es aber leider in sich. Das machte Rewe-Chef Lionel Souque in Berlin mit zwei Diagrammen deutlich. Das eine zeigte den explosiven Anstieg der Energiekosten – ein Hockeystick, wie ihn sich Startup-Unternehmer in ihren kühnsten Umsatz-Träumen nicht ausmalen könnten. Und das andere zeigte das Konsumklima, das nicht nur auf die schiefe Bahn geraten, sondern regelrecht abgestürzt ist. Irgendwo dazwischen bewegen sich zurzeit die Unternehmen und versuchen sich ein Bild davon zu machen, was im kommenden Jahr auf sie zukommen könnte. Das Einzige, was wirklich klar ist, ist, dass die Planung für 2023 mehr denn je lediglich zur Erklärung der Abweichung dienen wird. Und natürlich, dass die Preise steigen müssen.
Das tun sie zum Teil stärker als notwendig. Nicht wenige Anbieter, insbesondere auf Industrieseite nutzen die Gelegenheit zu einer Kalkulationsauffrischung. Ein Teil der Inflation ist Gierflation. Das ist bei Textilien nicht anders als bei Lebensmitteln. Der Markt wird das über kurz oder lang korrigieren – wenn es nicht der Handel direkt tut: Rewe hat Pepsi und Kellogg's‑Produkte deswegen bis auf weiteres ausgelistet.
Nun könnte man freilich darauf verweisen, dass im Textileinzelhandel seit 30 Jahren Krise ist, die Unternehmen bislang noch jede Wallung des Marktes weggesteckt haben und so mancher Totgeglaubte sich erstaunlich resilient gezeigt hat. Auf der anderen Seite hat Deutschland einen langen Aufschwung hinter sich, der insbesondere den Konsum begünstigt hat. Unter rezessiven Rahmenbedingungen werden die Überkapazitäten in unserem Markt ganz anders auf die Unternehmen durchschlagen.
Es wird zu einer Repriorisierung und einer Rückbesinnung auf die kurzfristig wirklich wichtigen Themen kommen müssen: der Fokus liegt auf Rentabilität und Liquidität, das Metaverse und Diversity-Workshops müssen erstmal warten.
Den externen Schock der Coronakrise hat der Staat noch mit viel Geld abgemildert. 6,3 Milliarden Euro gingen allein an Modehandel und ‑industrie, wie eine detaillierte Analyse in der aktuellen TW zeigt. Die drei größten Bezieher von Coronahilfen waren übrigens Galeria, Orsay und Görtz. Tja…
Die neuen staatlichen Hilfen werden die aktuelle Energiekostenexplosion abmildern. Aber angeschlagene Geschäftsmodelle werden sie nicht mehr retten. Und das ist, wie der am Mittwoch neu gewählte HDE-Präsident Alexander von Preen in Berlin sagte, auch gar nicht wünschenswert. Statt auf die Unterstützung der Regierung oder die Konjunktur zu hoffen, ist seit jeher jeder Unternehmer gut beraten, an seiner eigenen Firmenkonjunktur zu arbeiten.
Damit wird es in den kommenden Monaten zu einer Repriorisierung von strategischen Initiativen und operativen Maßnahmen und einer Rückbesinnung auf die wirklich wichtigen Themen kommen müssen: der Fokus liegt auf Rentabilität und Liquidität, das Metaverse und Diversity-Workshops müssen erstmal warten.
Zugleich bleiben die großen Themen auf der Agenda. EuroCommerce und McKinsey haben die großen Baustellen für die kommenden Jahre beim Kongress in Berlin benannt: Sustainability (Schaffung nachhaltiger Produkte und Angebote, CO²-neutrale Operations, Implementierung von Kreislaufwirtschaft), Digitalisierung (Optimierung digitaler Vertriebskanäle, Automatisierung von Prozessen, Datenmanagement und Analytics Modernisierung von IT-Systemen) und Talente (langfristige Personalplanung, Aus- und Weiterbildung, Mitarbeitergewinnung und Employer Branding). Den jährlichen Investitionsbedarf auf all diesen Feldern taxiert McKinsey mit zusätzlichen 1,6 Prozent vom Umsatz.
Brauchen wir ein neues Wort für Krise, wie Zukunftsforscherin Theresa Schleicher im Berlin meinte? Weil die eben nicht mehr weg gehe, spricht sie lieber von "verdichteter Gegenwart". Vielleicht reicht ein einzelhändlerisches Mindset auch schon aus: "In unserer Branche muss man Optimist sein", so Alexander von Preen, "sonst ist man fehl am Platz."