Passiert large

Die anderen 50 Prozent

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Jür­gen Mül­ler

Hät­te man die über 1000 Teil­neh­mer des Deut­schen Han­dels­kon­gres­ses die­se Woche nach dem Wort des Jah­res gefragt, so hät­ten sie “Kri­se” gewählt. Auf dem Podi­um war gar von Mul­ti-Kri­se oder Poly-Kri­se die Rede. Man­che mut­mass­ten, dass die Kri­se nie mehr weg geht. So wie das Inter­net. Oder das Kli­ma. In den Kaf­fee­pau­sen zeig­ten sich eini­ge mit den Geschäf­ten der ver­gan­ge­nen Mona­te indes gar nicht mal so unzu­frie­den. In vie­len 22er Bilan­zen wird sich die Kri­se allen­falls andeu­ten.

Tat­säch­lich ist die Kri­se vor allem eine Erwar­tung. Wirt­schaft mag Lud­wig Erhard zufol­ge zu 50 Pro­zent Psy­cho­lo­gie sein. Die ande­ren 50 Pro­zent haben es aber lei­der in sich. Das mach­te Rewe-Chef Lio­nel Sou­que in Ber­lin mit zwei Dia­gram­men deut­lich. Das eine zeig­te den explo­si­ven Anstieg der Ener­gie­kos­ten – ein Hockey­stick, wie ihn sich  Start­up-Unter­neh­mer in ihren kühns­ten Umsatz-Träu­men nicht aus­ma­len könn­ten. Und das ande­re zeig­te das Kon­sum­kli­ma, das nicht nur auf die schie­fe Bahn gera­ten, son­dern regel­recht abge­stürzt ist. Irgend­wo dazwi­schen bewe­gen sich zur­zeit die Unter­neh­men und ver­su­chen sich ein Bild davon zu machen, was im kom­men­den Jahr auf sie zukom­men könn­te. Das Ein­zi­ge, was wirk­lich klar ist, ist, dass die Pla­nung für 2023 mehr denn je ledig­lich zur Erklä­rung der Abwei­chung die­nen wird. Und natür­lich, dass die Prei­se stei­gen müs­sen.

Das tun sie zum Teil stär­ker als not­wen­dig. Nicht weni­ge Anbie­ter, ins­be­son­de­re auf Indus­trie­sei­te nut­zen die Gele­gen­heit zu einer Kal­ku­la­ti­ons­auf­fri­schung. Ein Teil der Infla­ti­on ist Gier­fla­ti­on. Das ist bei Tex­ti­li­en nicht anders als bei Lebens­mit­teln. Der Markt wird das über kurz oder lang kor­ri­gie­ren – wenn es nicht der Han­del direkt tut: Rewe hat Pep­si und Kellogg’s‑Produkte des­we­gen bis auf wei­te­res aus­ge­lis­tet.

Nun könn­te man frei­lich dar­auf ver­wei­sen, dass im Tex­til­ein­zel­han­del seit 30 Jah­ren Kri­se ist, die Unter­neh­men bis­lang noch jede Wal­lung des Mark­tes weg­ge­steckt haben und so man­cher Tot­ge­glaub­te sich erstaun­lich resi­li­ent gezeigt hat. Auf der ande­ren Sei­te hat Deutsch­land einen lan­gen Auf­schwung hin­ter sich, der ins­be­son­de­re den Kon­sum begüns­tigt hat. Unter rezes­si­ven Rah­men­be­din­gun­gen wer­den die Über­ka­pa­zi­tä­ten in unse­rem Markt ganz anders auf die Unter­neh­men durch­schla­gen.

Es wird zu einer Repriorisierung und einer Rückbesinnung auf die kurzfristig wirklich wichtigen Themen kommen müssen: der Fokus liegt auf Rentabilität und Liquidität, das Metaverse und Diversity-Workshops müssen erstmal warten.

Den exter­nen Schock der Coro­na­kri­se hat der Staat noch mit viel Geld abge­mil­dert. 6,3 Mil­li­ar­den Euro gin­gen allein an Mode­han­del und ‑indus­trie, wie eine detail­lier­te Ana­ly­se in der aktu­el­len TW zeigt. Die drei größ­ten Bezie­her von Coro­na­hil­fen waren übri­gens Gale­ria, Orsay und Görtz. Tja…

Die neu­en staat­li­chen Hil­fen wer­den die aktu­el­le Ener­gie­kos­ten­ex­plo­si­on abmil­dern. Aber ange­schla­ge­ne Geschäfts­mo­del­le wer­den sie nicht mehr ret­ten. Und das ist, wie der am Mitt­woch neu gewähl­te HDE-Prä­si­dent Alex­an­der von Preen in Ber­lin sag­te, auch gar nicht wün­schens­wert. Statt auf die Unter­stüt­zung der Regie­rung oder die Kon­junk­tur zu hof­fen, ist seit jeher jeder Unter­neh­mer gut bera­ten, an sei­ner eige­nen Fir­men­kon­junk­tur zu arbei­ten.

Damit wird es in den kom­men­den Mona­ten zu einer Reprio­ri­sie­rung von stra­te­gi­schen Initia­ti­ven und ope­ra­ti­ven Maß­nah­men und einer Rück­be­sin­nung auf die wirk­lich wich­ti­gen The­men kom­men müs­sen: der Fokus liegt auf Ren­ta­bi­li­tät und Liqui­di­tät, das Meta­ver­se und Diver­si­ty-Work­shops müs­sen erst­mal war­ten.

Zugleich blei­ben die gro­ßen The­men auf der Agen­da. Euro­Com­mer­ce und McK­in­sey haben die gro­ßen Bau­stel­len für die kom­men­den Jah­re beim Kon­gress in Ber­lin benannt: Sus­taina­bi­li­ty (Schaf­fung nach­hal­ti­ger Pro­duk­te und Ange­bo­te, CO²-neu­tra­le Ope­ra­ti­ons, Imple­men­tie­rung von Kreis­lauf­wirt­schaft), Digi­ta­li­sie­rung (Opti­mie­rung digi­ta­ler Ver­triebs­ka­nä­le, Auto­ma­ti­sie­rung von Pro­zes­sen, Daten­ma­nage­ment und Ana­ly­tics  Moder­ni­sie­rung von IT-Sys­te­men) und Talen­te (lang­fris­ti­ge Per­so­nal­pla­nung, Aus- und Wei­ter­bil­dung, Mit­ar­bei­ter­ge­win­nung und Employ­er Bran­ding). Den jähr­li­chen Inves­ti­ti­ons­be­darf auf all die­sen Fel­dern taxiert McK­in­sey mit zusätz­li­chen 1,6 Pro­zent vom Umsatz.

Brau­chen wir ein neu­es Wort für Kri­se, wie Zukunfts­for­sche­rin The­re­sa Schlei­cher im Ber­lin mein­te? Weil die eben nicht mehr weg gehe, spricht sie lie­ber von “ver­dich­te­ter Gegen­wart”. Viel­leicht reicht ein ein­zel­händ­le­ri­sches Mind­set auch schon aus: “In unse­rer Bran­che muss man Opti­mist sein”, so Alex­an­der von Preen, “sonst ist man fehl am Platz.”