Das neue Jahr beginnt, wie das alte Jahr endete: im Ausnahmezustand. Dass der Shutdown über den 10. Januar fortgesetzt werden könnte, stand von Anfang an im Raum. Seit dieser Woche ist es Gewissheit. Die Katastrophe dauert an, mindestens bis Ende Januar. Die Löcher in den Kassen des Handels werden immer tiefer, die Warenberge immer höher. Von 300 Millionen unverkauften Modeartikeln sprach der BTE im Dezember. Die werden jetzt – wenn überhaupt – nur noch mit Verlust verkauft werden können. Die Refinanzierung der bestellten Ware wird zum Problem, und für die anstehende Orderrunde fehlt jede Grundlage. Die Lieferanten sind ebenso unter extremem Druck. Viele Rechnungen werden nicht bezahlt, sie sollen Ware zurücknehmen und können gleichzeitig keine neue ausliefern. Es rächt sich, dass die meisten Einzelhändler finanziell von der Hand in den Mund leben.
Wieviele Unternehmen Corona am Ende zum Opfer fallen werden, hängt maßgeblich von den staatlichen Stützungsaktionen ab. Die Branche sollte Peter Altmaier beim Wort nehmen. Der Wirtschaftsminister hatte sich im November für den Einzelhandel stark gemacht und Einkaufen als patriotische Aufgabe bezeichnet. Das Geld fließt trotzdem nicht, wie es nötig wäre. Die Branchenverbände sind freilich nicht die Einzigen, die zurzeit Forderungen an die Politik stellen. Und die Frage, wer das alles bezahlen soll, wird mit der nahenden Bundestagswahl immer mehr in den Vordergrund rücken.
Dass der Einzelhandel im Jahr 2020 nach Angaben des Statistischen Bundesamts sein größtes Umsatzplus seit 1994 eingefahren hat und nunmehr das elfte Jahr in Folge gewachsen ist, wirkt da natürlich kontraproduktiv. Hinter dem Rekordplus von 5,3 Prozent stehen freilich extrem verschiedene Branchenkonjunkturen. Auf der Plus-Seite die Supermärkte, die Baumärkte und Einrichtungsgeschäfte und vor allem der Onlinehandel, der um fast ein Drittel zulegte. Kein Wunder, dass die Online-Aktien haussieren: Amazon hat 78 Prozent zugelegt, Zalando sich mehr als verdoppelt, die Aktien der Geldverbrennungsmaschine Farfetch kosten heute fünfmal so viel wie vor zwölf Monaten. Die Textilanbieter mussten dagegen laut amtlicher Statistik mit 20 Prozent weniger Umsatz zurechtkommen, die TW meldet für den Stationärhandel gar ein Minus von 30 Prozent.
Die Frage ist, inwieweit die Politik zu dieser Differenzierung fähig ist oder sein will. Das Verständnis für die Spezifika des Modegeschäfts ist – gelinde gesagt – nicht allzu ausgeprägt. Wenn dann auch noch diverse Ökonomen Entwarnung geben und wie gestern in der SZ von „rascher Erholung“ und „kräftigen Nachholeffekten“ im Jahresverlauf reden, dann mag das aus gesamtwirtschaftlicher Sicht stimmen. Um als Firma in den Genuss eines Konjunkturaufschwungs zu kommen, muss man den Herbst aber erst mal erleben.
Die Modehändler können deswegen gar nicht laut genug die Stimme erheben. BTE-Präsident Steffen Jost hat in der TW ein gutes Interview dazu gegeben. Die Handelsverbände haben einen offenen Brief an die Bundeskanzlerin geschrieben. Initiativen wie #handelstehtzusammen oder auch Einzelaktionen wie die angekündigte Protest-Ladenöffnung von Intersport Siebzehnrübl sorgen für Aufmerksamkeit. Dass der Sporthändler einen Rückzieher gemacht hat, weil er sich nicht bei den Querdenkern einreihen wollte, ist nebenbei bemerkt richtig. Die Corona-Kritiker wollen zurzeit mit der Parole #wirmachenauf bei unzufriedenen Kaufleuten punkten. Das in social media zirkulierende Meme #wirmachenAUFmerksam ist die richtige Antwort, nicht zuletzt auf diesen billigen Vereinnahmungsversuch.
Wie lange der Ausnahmezustand anhält, kann zurzeit niemand mit Gewissheit sagen. Wir werden auch nach der Wiedereröffnung noch eine ganze Weile mit lokalen Lockdowns leben müssen. Wahrscheinlich ist, dass der Spuk mit steigenden Temperaturen ab dem Frühjahr und der zunehmenden Durchimpfung der Bevölkerung nach und nach verschwindet. Spätestens im Herbst sollte das Geschäft wieder halbwegs normal laufen. Bis dahin heißt es: überleben.
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Und sonst?
… hat Kik-Gründer Stefan Heinig seine Anteile an den Mehrheitsgesellschafter Tengelmann abgegeben. Ein Vorgang, der in der Branchenöffentlichkeit keine angemessene Würdigung erfahren hat. Es war dem pressescheuen Heinig vermutlich recht.
… hat sich Kleider Bauer- und Hämmerle-Inhaber Peter Graf in der Übernahmeschlacht um AppelrathCüpper durchgesetzt. „Hämmerle und AppelrathCüpper – das macht Sinn“, verkündete Graf mit einem Seitenhieb auf Sinn-Inhaber Friedrich-Wihelm Göbel, der ihm bis zuletzt Steine in den Weg gelegt hatte. Derweil übernimmt Sinn sieben Häuser des insolventen Filialisten Mensing. Es wird nicht der letzte Betreiberwechsel im Textilhandel gewesen sein.
… ist mit Pierre Cardin ein weiterer Großmeister der Mode abgetreten. Der 98jährige gehörte zu den Pionieren der Pret a porter und hat damit die Mode demokratisiert, als es Zara noch gar nicht gab. Und Cardin hatte als einer der ersten begriffen, was eine Marke wert sein kann, wenn man Lizenznehmer dafür findet.
…löscht Bottega Veneta seine Accounts auf Instagram, Facebook und Twitter. Der Rückzug von den Massenplattformen ist letztlich konsequent. Die Luxusmarke würde auch keine Anzeigen in der Bild-Zeitung schalten oder einen Laden auf der Zeil anmieten.
… wird Jack Ma seit Monaten vermisst. Der Alibaba-Gründer war der Parteiführung zu mächtig und vor allem zu kess geworden. Ein spannender Beitrag dazu steht im Spiegel (Paywall).
…sind in Ratingen die Köpfe der Esprit-Chefs gerollt. Der neue Großaktionär North Point hatte bereits im Juli die Ablösung von CEO Anders Kristiansen und Finanzchef Johannes Schmidt-Schultes betrieben. Im Schutzschirmverfahren war das eine schlechte Idee. Jetzt nach vollzogener Sanierung präsentiert der ominöse chinesische Investor eine neue Geschäftsführung. Die Firma soll ihren Sitz nach Asien verlegen und von dort gesteuert werden. Dabei macht das Unternehmen den Löwenanteil seines Geschäfts immer noch in Deutschland. Die Zukunft der einstigen Branchenperle ist ungewisser denn je.