Was haben der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder und S.Oliver-Inhaber Bernd Freier gemeinsam? Womit haben vier der zehn reichsten Deutschen ihr Vermögen gemacht? Wo haben Giorgio Armani, Ralph Lauren und Jil Sander ihr Geld verdient, bevor sie weltberühmte Modedesigner wurden?
Alle haben im Einzelhandel angefangen. Die ehemalige Moderedakteurin Heidemarie Jiline Sander mit ihrer eigenen Boutique in der Hamburger Milchstraße, Armani als Dekorateur bei La Rinascente, Lauren als Handschuhverkäufer bei Brooks Brothers. Werner Otto startete mit einem Schuhversand und Dieter Schwarz und die Brüder Albrecht mit billigen Lebensmitteln. Bernd Freier eröffnete vor über 50 Jahren seinen Sir Oliver-Laden in Würzburg. Und Gerhard Schröder machte eine kaufmännische Lehre in einem Porzellanwarengeschäft in Lemgo, bevor er auf dem zweiten Bildungsweg Jura studierte und in die Politik ging. Ein Verkäufer ist er allerdings bis zuletzt geblieben.
Nun hat nicht jeder das Zeug zu einem Armani, und nicht jede würde gerne mit einem Bernd Freier tauschen. Im Einzelhandel sein Geld zu verdienen, sei es als Unternehmer oder als Angestellter, ist zudem nicht leichter geworden. Aus vielerlei Gründen erscheint jungen Menschen die Arbeit im Laden heute nicht mehr attraktiv. Der demografische Wandel tut sein Übriges. So beklagt die Branche den Fachkräfte- und Nachwuchsmangel aktuell mehr denn je. Kirsten Reinhold hat das in der TW diese Woche erschöpfend behandelt und Lösungsansätze der Unternehmen beschrieben.
Ganz sicher richtig ist, dass die fehlende Attraktivität des Verkäuferberufs auch mit der Entlohnung zu tun hat. Von 1800 Euro netto kann man heute kaum eine Familie ernähren, und wenn im Freundeskreis alle mehr verdienen, nutzt das schönste Employer Branding nichts. Mehr Geld würde bedeuten, dem Verkauf den Stellenwert einzuräumen, der ihm gebührt: Läden leben vom Verkauf. Verkäufer verdienen das Geld, das Einkäufer erst ausgeben können. Sie sind die ersten und oft die einzigen, die wissen, was die Kunden wirklich wollen. Wenn Verkäufer die Chance hätten, auch nur annähernd so viel wie Einkäufer zu verdienen, dann würden sie diesen sicherlich auch nicht mehr die netten Reisen neiden.
Nun ist das in Zeiten galoppierender Kosten schnell hingeschrieben. Klar ist, dass der Wettbewerb kaum höhere Personalkostenanteile zulässt. Vielleicht wäre eine stärkere Spreizung der Gehälter eine Option, insbesondere im beratungsintensiven Fachhandel: eine Entlohnung mit spürbar höheren variablen Anteilen, die leistungsabhängig bezahlt werden und individuell deutlich bessere Einkommen ermöglichen. So wie das im Vertrieb in vielen Branchen üblich ist. Deshalb wäre ein höherer Mindestlohn hier übrigens nicht hilfreich. Dies würde den Spielraum für variable Anteile verringern.
Letztlich sind die Anforderungen in vielen Läden, wenn man ehrlich ist, eher gesunken. Früher war mehr Beratung. In vertikalen Filialsystemen geht es heute dagegen vor allem ums Pulloverfalten.
Bei all dem darf man sich nichts vormachen. Der Einzelhandel hat sich in den vergangenen Jahrzehnten massiv gewandelt und mit ihm die Berufsbilder und Qualifikationen. Es sind viele neue Funktionen und Positionen entstanden. Die zunehmende Konzentration und Filialisierung haben zu einer massiven Spezialisierung und Professionalisierung geführt. Wer heute einen Laden führt, kauft meistens nicht mehr ein. Stattdessen kümmert er sich um Personal und Präsentation. Einkaufen heißt heute nicht mehr, mit dem Handelsvertreter im Vorlageraum Kaffee zu trinken, sondern nicht selten, sich in Fernost mit knallhart verhandelnden chinesischen Produzenten herumzuschlagen. Das Marketing, die Expansion, die Finanzen – in mittleren und erst recht in größeren Unternehmen verlangen alle diese Funktionen gut ausgebildete (und gut bezahlte) Spezialisten. Auch die IT-Systeme sind nichts mehr für Autodidakten. Jedenfalls nicht, bis die KI eines Tages vielleicht alle User-Probleme gelöst haben wird. Vertikalisierung, Digitalisierung und Omnichannel erfordern ein intelligentes Zusammenspiel interdisziplinär agierender Profis. In der Zalando-Zentrale werden überwiegend Akademiker arbeiten, und bei Amazon muss man – überspitzt gesagt – Excel-Crack sein, um Gabelstapler fahren zu dürfen.
Der Job des Verkäufers ist im Kern dagegen immer derselbe geblieben. Letztlich sind die Anforderungen in vielen Läden, wenn man ehrlich ist, sogar eher gesunken. Früher war mehr Beratung. In vertikalen Filialsystemen geht es heute dagegen vor allem ums Pulloverfalten. Was die Arbeit nicht eben attraktiver macht. Die Kluft zwischen „einfachen“ Verkäuferjobs auf der Fläche und komplexen Spezialisten-Positionen in den Zentralen ist damit größer geworden. Das führt dazu, dass die Karrieren im Einzelhandel heute anders verlaufen bzw. es neue Karriereoptionen gibt. Der Einstieg in den Aufstieg beginnt nicht mehr zwangsläufig am POS.
Inwieweit dies die Kundenorientierung einer Organisation fördert, sei mal dahingestellt. Und ob eine Selfmade-Karriere wie die von Bernd Freier heute noch möglich wäre?