
Das Ganze fing damit an, dass Jacquemus seine Sommer-21-Schau mitten in einem Kornfeld machte. Seitdem nimmt es kontinuierlich zu: In der darauffolgenden Saison fotografierten Loro Piana ihre Kampagne in einem Kornfeld. Brunello Cucinelli ließ sich für sein Pressefoto in einem Kornfeld ablichten. Auch das offizielle Portrait von Simon Porte Jacquemus zeigt ihn in einem Kornfeld stehend. In einer viralen Fotostrecke aus der diesjährigen Oktober-Vogue sieht man die beiden Supermodels Kendall Jenner und Gigi Hadid gemeinsam durch ein Kornfeld laufen. Matthieu Blazy dekoriert seine mit großer Spannung erwartete Debütkollektion bei Chanel mit Kornähren. Und Michael Rider schmückt unabhängig davon seine mit großer Spannung erwartete Debütkollektion bei Celine ebenfalls mit Kornähren …
Jacquemus postet auf seinem Instagram kommentarlos einen Clip, der zeigt, wie solches Korn in traditionellem Handwerk zunächst zu Mehl gemahlen, dann zu Teig verknetet und schließlich zu Brot verbacken wird. Beim Storecheck im Rahmen des diesjährigen Dachmarkenforum in Berlin zeigte man den von weit her angereisten Mode-Profis statt der sonst üblichen Mode-Boutiquen diesmal die Bäckerei Sofi, in deren offener Backstube man ebenfalls zusehen kann, wie Brot gemacht wird …
Da stellt man sich dann schon die Fragen: Was will uns all das sagen? Und was hat das mit dem Verkauf von Mode zu tun?
Sehr viel: In den letzten zwei Jahren wurde unsere gesamte politische Weltordnung einmal auf den Kopf gestellt. Freundschaften und Bündnisse, die über 80 Jahre sorgsam geknüpft worden waren, wurden von unseren Bündnispartnern schroff aufgekündigt. USA und Israel zum Beispiel durften wir über 65 Jahre lang nicht nur als Verbündete, sondern auch als Verwandte im Geiste betrachten. Doch dort, wo immer Vertrauen und Partnerschaft war, herrscht jetzt Kälte, Misstrauen und Entfremdung.
In derselben Zeit haben uns auch große Unternehmen, denen wir vertraut hatten, reihenweise enttäuscht: Wir mussten erkennen, dass die angeblich sozialen Medien, die uns Gemeinschaft und Information versprochen hatten, systematisch Spaltung und Desinformation betreiben. Die Inhaber dieser Plattformen, die wir früher einmal dafür bewundert hatten, dass sie groß denken, gerieren sich als James-Bond-Bösewichter. Insbesondere Elon Musk hat all die Werte verraten, derentwegen man seine Automarke Tesla anfänglich sympathisch fand. Wie Tesla schien auch Apple lange Zeit zu den Guten zu gehören. Doch da wo uns früher Innovationsgeist und Nachhaltigkeit geboten wurde, finden wir jetzt nur noch Machtmissbrauch und Ausbeutung.
Wem kann man noch vertrauen? Das ist die Frage, die zunehmend über allem steht.
In der Mode sieht es leider nicht besser aus. Egal ob bei Apple und Amazon oder Primark und Dior – das Prinzip ist das gleiche: Unternehmen, die Milliardengewinne machen, gönnen den Menschen, die für sie arbeiten nicht einmal das Existenzminimum. Und die Ausrede ist ebenfalls die gleiche: Man habe angeblich keine Kontrolle über seine Lieferkette und von all dem nichts gewusst. In den letzten zwei Jahren waren ausgerechnet die Modeunternehmen, die für uns immer über jeden Zweifel erhaben waren, in besonders schäbige und hässliche Skandale verwickelt: Dior, Giorgio Armani, Max Mara, Brunello Cucinelli und Loro Piana. „If you can’t trust Loro Piana, who can you trust?” titelt Business Of Fashion zu Recht.
Ja: Wem kann man noch vertrauen? Das ist die Frage, die zunehmend über allem steht.
Man kann sagen, dass die Menschen in den letzten zwei Jahren eine historisch beispiellose Serie an Ent-Täuschungen erlebt haben. Zurück bleibt ein reflexartiges Misstrauen allem gegenüber – Mitmenschen, politischen Institutionen und wirtschaftlichen Unternehmen. Und ein wachsender Widerwille, seine Sympathie und sein Geld den Falschen zu geben.
Die Rückkehr zum Korn als Ursprung des Lebens, die Wiederentdeckung des Brotes als dem Urlebensmittel, die Rückbesinnung auf das Elementare, auf die Basics, mit denen alles anfängt – vor dem Hintergrund der derzeitigen Vertrauenskrise lässt sich all das wie folgt lesen: Eine Gesellschaft, die berechtigterweise das Gefühl hat, irgendwo falsch abgebogen zu sein, will gerne an den Ausgangspunkt zurückkehren.
Es ist bezeichnend, dass Jacquemus für eine seiner Kampagnen den wohl ikonischsten Moment aus dem Kultfilm „Gladiator“ nachstellt, nämlich den Augenblick, in dem die Hauptperson durch ein Kornfeld geht und seine Hand durch die reifen Ähren gleiten lässt. In dem Film hat das ein ganz besonderes Gewicht, weil dieser Moment, zu dem sich der Protagonist immer wieder zurückträumt, der letzte war, in dem für ihn die Welt noch in Ordnung war, der letzte Moment bevor der Verrat an ihm seinen Lauf nahm, der letzte Moment, in dem er noch vertrauen konnte.
„Uns kann man vertrauen“ scheint derzeit die wichtigsten Botschaft zu sein, die Marken und Produkte aussenden können.
Kult-Bäckereien wie das Sofi in Berlin gibt es inzwischen in allen größeren Städten – „Brot-Manufakturen“, „Über-Bäckereien“, „Brotiquen“, wo die Betreiber eine „Philosophie“ haben und von „Back-Kultur“ sprechen, wo nicht mit Monsanto-Weizen gebacken wird, sondern mit Urgetreide, wo man dem Teig die Zeit gibt, die er braucht, und wo die Mitarbeiter stolz sind auf das, was sie tun. Im Gegensatz zu Modegeschäften stehen die Menschen vor solchen Bäckereien zu jeder Tageszeit geduldig Schlange und bezahlen nie dagewesene Beträge. Sie tun dies gerne. Denn sie bekommen dafür etwas, das einerseits ganz gewöhnlich ist, nämlich ein Brot, und gleichzeitig etwas, das in unserer Warenwelt großen Seltenheitswert hat, nämlich etwas, das sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn „rein“ ist. Die Gewissheit, alles richtig gemacht zu haben.
Das ist etwas, das ihnen andere Produkte – und Mode im Besonderen – schon länger nicht mehr bieten können. Ein Produkt mit einer transparenten und sauberen Lieferkette. Von jemandem, der sich für jedes einzelne Glied dieser Lieferkette persönlich verbürgt. Der mit seiner Ehre dafür steht, dass sich auch beim Blick hinter die Kulissen das einlöst, was nach außen versprochen wird. Kurz: Etwas, dem sie vertrauen können.
„Wir brauchen mehr Vertrauen” war hier auf profashionals bereits am 5. November die Schlagzeile. Das bezog sich auf die Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, gilt aber erst recht für das Verhältnis zwischen Menschen und Mode. „Uns kann man vertrauen“ scheint derzeit die wichtigsten Botschaft zu sein, die Marken und Produkte aussenden können.

Wie sich Vertrauen nonverbal vermittelt und was das konkret für das Design bedeutet, das vertieft das DMI beim DMI FASHION DAY ONLINE.
Carl Tillessen ist Geschäftsführer des Deutschen Mode-Instituts (DMI). Sein Buch “Konsum” geht der Frage nach, wie, wo und vor allem warum wir kaufen. www.carltillessen.com