Balenciaga

Touch Screen!

Wir kaufen immer öfter Kleidung, die wir nur auf Fotos im Netz gesehen haben. Dadurch verliert Haptik in der Mode zunehmend an Bedeutung, sagt Carl Tillessen. Während für die Älteren der Griff des Stoffes noch eine entscheidende Rolle spielt, geht es bei Jüngeren vor allem um das Aussehen.
Carl Tillessen

In dem Film „Es war einmal in Amerika“ heißt es an einer Stelle „Man kann die Gewinner immer am Start erkennen“. Das galt auch für die Gewinner der Corona-Krise: Es waren diejenigen, die die digitalen Lösungen hatten, die wir plötzlich dringend brauchten, um in unserem Job all das aus der Entfernung machen zu können, was bis dahin persönliche Anwesenheit erfordert hatte.

Nach den ersten Wochen des Lockdowns, als selbst Youporn und Zalando mit Einbrüchen von minus 13 beziehungsweise minus 29 Prozent zu kämpfen hatten, konnten Remote-Working-Tools wie Zoom, Slack und Hangouts Zuwachsraten von 200 bis 250 Prozent verzeichnen. All diese Angebote gab es schon lange, man hatte sie bloß bis dahin kaum genutzt. Rückblickend fragt man sich, warum?

Wir vom DMI haben eine verwandte Software jetzt sogar für die letzten beiden Intercolor-Treffen genutzt, bei denen viel mit Farb- und Materialproben gearbeitet wird. Zu diesen Workshops, bei denen die 16 führenden Industrienationen der Welt die globalen Farb- und Materialtrends definieren, kam man bisher immer physisch zusammen – mal in Mailand, mal in Köln, mal in Bangkok. Diesmal traf man sich am Bildschirm.

Auch die meisten Modenschauen fanden diesmal am Bildschirm statt. So saßen bei der Show von Balmain Bildschirme statt Menschen in der Frontrow, bei Miu Miu war am Laufsteg eine Fankurve aus Bildschirmen aufgebaut, und bei Prada defilierten die Models statt zwischen Sitzreihen zwischen ganzen Batterien von Bildschirmen und Kameras. Im Ergebnis waren die meisten Modenschauen gar keine Modenschauen mehr, sondern digitale Modefilme, die man losgelöst von Fashion Weeks streamen kann, wo man will, wann man will.

Die Stoffmessen konnten ebenfalls nicht wie gewohnt stattfinden. Also sind große Firmen wie die Hugo Boss AG und die PVH Holding dazu übergegangen, sich mit ihren wichtigsten Lieferanten stattdessen in der DMIx Cloud abzustimmen und ihre Vorauswahl anhand von digitalen Stofflaschen zu treffen. Dabei wird zum einen Teil mit perfekten, dreidimensional betrachtbaren Darstellungen von existierenden Stoffen gearbeitet. Und zum anderen Teil wird mit ebenso perfekten Simulationen von Stoffen gearbeitet. Diese Stoffe sind noch gar nicht gewebt. In einer Art Pepsi-Test konnten selbst erfahrene Modeprofis auf einem großen, hochauflösenden Bildschirm nicht mehr sagen, was Abbild ist und was Simulation.

Stur weiterhin zu behaupten, dass man Mode nun mal anfassen müsse, ist ungefähr so hilfreich, wie bei jeder Gelegenheit zu erwähnen, dass eine Kugel Eis früher zehn Pfennig gekostet hat

So hat die Pandemie der Digitalisierung von Mode einen enormen Schub verliehen. Auf allen Stufen der Branche ging es darum, durch digitale Lösungen die räumliche Distanz zu überwinden zwischen den Produkten und ihrem Publikum, das zuhause festsaß.

Besonders die Modeläden brauchten dringend digitale Lösungen, um sich kurzfristig von Nahversorgung auf Distanzhandel umzustellen. Die Nachfrage nach schnellen, schlüsselfertigen Onlineshop-Lösungen wie Ecwid und Shopify ging plötzlich durch die Decke. Auch diese Angebote waren schon längst vorhanden, man hatte sie nur bisher zu wenig genutzt. Viele stationäre Einzelhändler haben sich erst jetzt, unter dem Druck der Ereignisse, mit einem eigenen Online-Shop ins Netz begeben.

Im Netz angekommen stellten sie fest, dass ihre Kunden schon längst da sind. Schon vor Corona wurde mit großem Abstand kein anderes Produkt so gerne online gekauft wie Kleidung und Schuhe. Und es versteht sich von selbst, dass durch das Virus und das dadurch gebotene Social Distancing auch die Akzeptanz des Distanzhandels noch einmal enorm zugenommen hat. Letztes Jahr kaufte die Mehrheit der Menschen ihre Kleidung noch lieber stationär und nur eine Minderheit lieber im Netz. Laut einer aktuellen Umfrage von Smarketer ist es seit diesem Jahr erstmalig umgekehrt.

Das heißt, wir kaufen immer öfter Kleidung, die wir nicht in real life gesehen haben, sondern nur auf Fotos im Netz. Und wenn wir sie dann haben, teilen wir unsere Freude daran wiederum nicht, indem wir sie unseren Bekannten in echt zeigen, sondern indem wir Bilder davon posten. Dadurch verliert Haptik in der Mode zunehmend an Bedeutung. Während für ältere Menschen beim Kleidungskauf der Griff des Stoffes noch eine entscheidende Rolle spielt, geht es bei Jüngeren bereits jetzt vor allem um das Aussehen.

Die 1995 und später Geborenen haben die Welt ohnehin eher auf dem Bildschirm als im Original kennengelernt. Dadurch haben diese Digital Natives einen anderen sinnlichen Zugang zur Welt als die Digital Immigrants: Sie können Bilder und visuelle Reize in einer Menge und Geschwindigkeit aufnehmen, die ihre Eltern heillos überfordern. Aber dafür ist – durch die virtuelle Wahrnehmung der Welt – ihr Tastsinn verkümmert. So beobachten zum Beispiel Professoren, dass Studenten – seit Eintritt der Generation Z in die Hochschulen – Materialproben, die man ihnen vorlegt, nicht mehr anfassen, sondern nur noch angucken.

Ob es uns persönlich gefällt oder nicht – immer mehr Glieder der modischen Kette haben sich bereits ins Netz verlagert oder sind gerade dabei, es zu tun: Stoffeinkäufer sourcen in der Cloud, Designer entwerfen ohne physische Prototypen, Marken zeigen ihre Kollektionen als Modefilm, Einkäufer ordern auf der Grundlage von digitalen Lookbooks, Verbraucher shoppen online und präsentieren sich mit ihren Einkäufen auf Social Media.

Angesichts all dieser Entwicklungen stur weiterhin zu behaupten, dass man Mode nun mal anfassen müsse, ist ungefähr so hilfreich, wie bei jeder Gelegenheit zu erwähnen, dass eine Kugel Eis früher zehn Pfennig gekostet hat. Denn spätestens nach den digitalen Disruptionen der letzten Monate erscheint diese Behauptung nur noch als das Wunschdenken von Boomern, die gerne Stoffe streicheln.

Carl Tillessen ist Autor von Konsum Warum wir kaufen, was wir nicht brauchen