Endlich: Die Leute gehen wieder unter Leute und brauchen wieder was zum Anziehen! Nach über einem Jahr erwacht die Modebranche aus ihrer Schockstarre und fragt sich „Wo waren wir noch mal stehengeblieben?“.
Dabei ist genau das die falsche Frage. Denn die Pandemie hat die Dinge so gründlich durcheinandergebracht, dass wir nicht einfach dort weitermachen können, wo wir aufgehört haben. Sie hat die Art, wie wir uns kleiden viel einschneidender und bleibender verändert als irgendein anderes globales Ereignis in der Nachkriegsgeschichte.
Das liegt daran, dass jene Ereignisse – internationale Konflikte, Finanzkrisen, Reaktorunglücke und Terroranschläge – die Menschen zwar schockiert haben. Sie hatten aber im Vergleich zu dem, was wir jetzt gerade erleben, relativ wenig Einfluss auf ihren Alltag. Die Hygienemaßnahmen zur Eindämmung der Pandemie hingegen haben unser tägliches Leben komplett auf den Kopf gestellt.
Dabei hat sich die Art, wie wir arbeiten, noch nachhaltiger verändert als die Art, wie wir unsere Freizeit verbringen. Fast alle Berufstätigen (94%) geben zum Beispiel an, durch Corona beruflich deutlich weniger unterwegs zu sein als vorher. Und 63% aller Befragten geben an, es nicht zu vermissen, beruflich viel unterwegs zu sein. Überhaupt haben sich erstaunlich viele der Veränderungen, zu denen man während der Pandemie gezwungen war, sowohl für die Arbeitnehmer als auch für die Arbeitgeber bewährt und werden uns auch jenseits der Krise erhalten bleiben.
Eine dieser Veränderungen ist das Arbeiten im Homeoffice. In einer Umfrage kündigten 68% aller Arbeitnehmer an, dass sie auch nach der Krise verstärkt von zuhause arbeiten wollen. Die Zahlen, die uns bei DMI vorliegen, lassen erkennen, dass sich nach der Krise die Anzahl der Leute, die teilweise von zuhause arbeiten, verdoppelt haben wird. Und die Anzahl der Leute, die permanent im Homeoffice arbeiten, wird sich sogar fast verdreifacht haben. Alles in allem glauben 84% aller Berufstätigen nicht, dass sie nach Corona wieder genauso arbeiten werden wie früher. Und diese andere Art zu arbeiten an sich erfordert bereits eine andere Art von Kleidung.
Es sind aber nicht nur die Veränderungen in den äußeren Umständen des Lebens, sondern auch die Veränderungen in den Wertesystemen unserer Kunden, die uns als Modemacher zwingen, uns zu bewegen. Denn die Hygienemaßnahmen, die den Menschen schon seit über einem Jahr ihre Lebensfreude rauben und ihr Denken, Sprechen und Handeln beherrschen, haben natürlich auch in ihrem Inneren tiefe Spuren hinterlassen. Und je länger sich das Ganze hinzieht, je länger der Alltag der Menschen von Auflagen beeinträchtigt ist, desto mehr gewöhnen sie sich an sie und passen sich ihnen an. So wird aus dem Ausnahmezustand am Ende tatsächlich ein „New Normal“, eine neue Normalität.
Wir können und sollten als Modemacher nicht so tun, als wäre nichts geschehen. Vielmehr gilt es die Erfahrungen des Lockdowns zu verinnerlichen und sichtbar verändert daraus hervorzugehen.
Mehr noch: Je länger die Menschen unter den Einschränkungen ihres Lebens zu leiden haben, desto mehr versuchen sie, den dadurch ausgelösten Veränderungen etwas Gutes abzugewinnen. Sie versuchen, die Krise als „Chance“ zu sehen, als Botschaft, als Lektion. Sie wünschen sich, dass danach alles irgendwie anders ist, besser als vorher, damit all dieses Leid und all diese Entbehrungen nicht umsonst waren.
Dieser allgemeinen Erwartungshaltung hat die Autorin und Aktivistin Renee Sonya Taylor in einem Social-Media-Post Ausdruck verliehen, der sofort viral ging: „Wir werden nicht zur Normalität zurückkehren. Denn Normalität gab’s nie. Unsere Vor-Corona-Existenz war nie normal (…) Wir sollten uns nicht danach sehnen, zu ihr zurückzukehren, meine Freunde. Wir haben die Möglichkeit bekommen, ein neues Kleidungsstück zu nähen. Eins, das der gesamten Menschheit und Natur passt“.
Wenn die Krise bei den Menschen Spuren hinterlässt, dann geschieht das nicht gegen ihren Willen. Im Gegenteil: Die Menschen verändern sich, weil sie sich verändern wollen. Auf die Frage, wie sie sich ihr Leben danach vorstelle, erklärt uns Laura Bailey von der Vogue “Ich will mich verändert haben. Ich will den Kummer verinnerlicht haben, Kraft gesammelt haben und Flexibilität. Ich will nicht so tun, als wäre nichts geschehen.“
So können und sollten auch wir als Modemacher nicht so tun, als wäre nichts geschehen. „Ich glaube, wir brauchen uns gegenseitig nichts mehr vorzumachen“, meint Dries van Noten. „Schließlich haben wir alle gemeinsam etwas wirklich Unschönes durchgemacht. Falls wir im Juni und September Modenschauen machen, wird es nicht so wie vorher sein.“ Eine ganze Reihe von Designern hat uns bereits mit ihren Schauen im Februar und März gezeigt, dass man nach der Krise nicht einfach da weitermachen will, wo man vorher aufgehört hat. Vielmehr gilt es die Erfahrungen des Lockdowns zu verinnerlichen und sichtbar verändert daraus hervorzugehen.
Genau das ist es, was all die Menschen, die die Krise als Chance begreifen, als Botschaft, als Lektion, jetzt von ihren Lieblingsmodemarken erwarten. Sie wollen sehen, dass wir – genau wie sie – das letzte Jahr zur Selbstoptimierung genutzt haben, dass wir die Chance ergriffen, die Botschaft gehört, unsere Lektion gelernt haben.
Und genau das meint Francesco Risso von Marni, wenn er sich für die Branche wünscht: „Ich hoffe, wir werden nicht alles vergessen, was wir gelernt haben“. Auch Alessandro Sartori von Zegna bestätigt uns: „Es sind genau Zeiten wie diese, in denen alles in Frage steht, in denen wir bei Zegna uns entschieden haben, noch einmal ganz neu anzufangen.“ Und Olivier Rousteing von Balmain gibt offen zu, dass es dabei auch um Veränderung um ihrer selbst Willen geht: „Ich weiß nicht, wo wir hingehen, aber ich weiß, dass wir irgendwo hingehen. Es geht nicht um das Ziel, sondern um den Weg, die Reise, den Aufbruch und den Ausbruch“.
Für einen solchen Aufbruch und Ausbruch bieten uns die zahlreichen Werteverschiebungen bei unseren Kunden mindestens ebenso zahlreiche Optionen. Nur eine Option bieten sie uns nicht, nämlich die, den Staub von unserem Old Normal zu pusten und es unseren Kunden als New Normal anzubieten. Sie würden es uns nicht abkaufen.