Es ist eine eigenartige Sache, dieser Tage: Man kann sich die neueste Show von Gucci oder Louis Vuitton in Echtzeit anschauen, während man zuhause auf dem Klo sitzt – und man sieht sogar noch mehr, als wenn man vor Ort auf einem Mittelklasse-Sitzplatz in der vierten Reihe säße. Während man also Ballast abwirft, hofft man, neue Seelennahrung zu bekommen – und hockt am Ende doch irgendwie leer da. Zumindest untenrum ein gutes Gefühl, aber der Kopf, der schwirrt im Vakuum. Die ersehnte Erleuchtung bleibt aus.
Wahrscheinlich, so sagt man sich pflichtbewusst, ist es unbefriedigend, weil man nicht "live" dabei war. Dann fehlt einem ein entscheidendes Momentum, nämlich die "Stimmung" vor Ort, die alles verzaubert und bedeutend macht. Ohne diesen Kontext kann und soll man das Ganze wohl nicht verstehen, denkt man. Dann aber: Wie geht es den Abermillionen von anderen, die auch auf dem Klo sitzen und Modeschauen gucken? Verstehen die das ebenso wenig? Oder haben die gar nicht den Anspruch, dazu ein eigenes Urteil zu fällen? Reicht es, einfach dabei zu sein?
Fazit nach einer Woche auf dem Handy verfolgter Menswear-Schauen in Mailand und Paris: It’s all so instagrammable today! Alles flasht innert Sekunden. Wenn nicht, dann ist es nichts. Oder täuscht der Eindruck? Immerhin schreibt Angelo Flaccavento von Business of Fashion, dass es abseits des grellen Blitzlichtgewitters um die "Wiederentdeckung der männlichen Silhouette" gegangen sei. Oha! Es gebe feine Töne abseits des Lärms. Dann aber liest man, gleich im nächsten Post darunter, bei High Snobiety: "Is Men’s Fashion on a Collision Course with Reality?"
Während die Szene also die Wiederentdeckung des Tailorings feiert, sieht der Alltag an der Front unverändert dröge aus: Hoodies, T‑Shirts, Trackpants, Logos – und Luxus, das wird gekauft. "Was die Männer antreibt, ist die Dreieinigkeit von Hip-Hop, Etwas-sein-wollen und sozialen Medien (…) Ein Großteil des aktuellen Modepublikums bezieht sich auf dieses ehrgeizige Evangelium. Und der Ort, an dem man es zur Schau stellen kann, ist natürlich Instagram", schreibt Eugene Rabkin für High Snobiety. Ich denke, das trifft den Zustand der Menswear ganz gut. Man wäre gerne woanders, aber die Realität hat mächtig Gravität.
Eine Rückkehr zur Formalität, zu Silhouette und Passform ist, bei aller Hoffnung auf Erneuerung, nicht sehr wahrscheinlich. Die Männer, modefaul und komfortbewusst wie sie sind, werden sich nicht so bald wieder in enge Sakkos zwängen lassen.
Wahrscheinlich darf man den Prognostikern, die nun eine Rückkehr zur Formalität, zu Silhouette und Passform, zu Schneiderkunst und Sich-ankleiden herbeiorakeln, nicht recht trauen. Es wäre eine 180-Grad-Kehrtwende nach zwanzig Jahren fortschreitender Casualisierung. Und so ein Turnaround ist, bei aller Hoffnung auf Erneuerung der Mode, nicht sehr wahrscheinlich. Die Männer, modefaul und komfortbewusst wie sie sind, werden sich nicht so bald wieder in enge Sakkos zwängen lassen. Sie haben diese ja eben erst gegen etwas bequemere Modelle getauscht. Es hat sich erst gerade herumgesprochen, dass die Bundfalte wiederkommt.
Was bleibt also, wenn sich der Nebel der akuten Erregung lichtet? Ich denke, man darf sich Dior Homme zu Herzen nehmen, wie dort mit feiner Klinge die alte Männlichkeit zerlegt und zu einem neuen Ideal geformt wird. Große Klasse! Bei Hermès kondensiert man alles wohltemperiert zu einem Look, der auch abseits der Blogs und Insta-Timelines funktioniert. Dries van Noten weiß ebenso gut, dass Männer weiche Seiten haben, aber trotzdem Strukturen brauchen. Und Zegna liegt ebenso selten daneben – es geht in Richtung weicherer Stoffe und weitere Volumen, ganz klar. Aber nicht zu forsch! Sonst verlieren wir vielleicht den Draht zur Basis, und damit wäre nun echt niemandem gedient.
Und nun bitte spülen, danke!
PS: Spektakulär, wie sich Gucci (ohne Alessandro Michele) mit nur einer einzigen mittelprächtigen, ratlosen Show in Mailand ganz vom Radar geschossen hat. Next one, please.
PPS: Peak Trendcore, dies prognostiziert das englische Zeitgeist-Fachorgan i‑D: mehr Fashion Hype als jetzt geht nicht. Wir haben es mit einer nicht mehr überblick- und bewältigbaren Fülle an Lebensentwürfen zu tun. Overkill, und adieu.
PPPS: Nichts fühlt sich gerade bemühter und überflüssiger an als diese Suche nach dem nächsten großen Ding. Dieses orakelhafte Postulieren des kommenden Neuen – ein alter Hut, eine Sisyphusarbeit. Get a life!