Es sind atmosphärische Misstöne, scheinbar achtlos geäußerte Nebensätze oder für Sekundenbruchteile entgleiste Gesichtszüge. Winzige Momente also, die den sensiblen Beobachter spüren lassen: Hier stimmt etwas nicht. Mehr. Das gilt für Liebesbeziehungen ebenso wie für eine Branche wie die Modeindustrie. Nur manifestiert sich die Misere weniger in der Streisand‘schen Klage „You don‘t bring me flowers anymore“, sondern beispielsweise in uninspirierten NOS-Artikeln auf dem Stand eines deutschen Mittelständlers im Fortezza di Basso. In kaum zu verbergender Leere am Messedamm. In ratlosen Panel-Diskussionen. In Kollektions-Smalltalk, bis zum letzten Adjektiv identisch mit Gesprächen anno 2007. Im verzweifelten Gehangel von buzz word zu buzz word: Omnichannel, Authentizität, Influencer, Nachhaltigkeit, D2C, Metaverse, Purpose, Diversität … Ein zukunftsweisendes, faires, besseres Kleiden und Wirtschaften als stetig länger werdende Checkliste zum Abhaken.
Die eigentliche Fashion und der ein zahlendes Publikum mitreissende Spaß an ihrer Kreation? Scheint nebensächlich geworden im Ringen um Retailkonzepte, ehrgeizige Selbstverpflichtungen und mit dem dichten Regularien-Dschungel. Jedenfalls geht manchem PR-Verantwortlichen mittlerweile die Message der neuen Saison deutlich holpriger über die Lippen als die Transparenz-Benchmarks der eigenen Lieferkette und das Veröffentlichungsdatum des nächsten CSR-Reports. Der Ehrgeiz, in einer zunehmend volatilen Welt der Dauerkrisen und unersättlichen Kundenbedürfnisse die Kontrolle zu behalten, hat im komplexen Organismus der Mode zu einem Ganzkörperkrampf geführt. Bei der verständlichen Konzentration aufs Überleben, so war mein Eindruck in den letzten Wochen, ist das (Er-)Leben auf der Strecke geblieben, haben die Excel-Tabellen endgültig das Experiment verdrängt und die KPIs die Coolness untergraben.
Das sieht man auf der Stange. Jenseits der global-medial gehypten Über-Marken und Luxus-Maisons sind die Designs in der Mitte oft viel zu zaghaft bis banal. Das Beste der 70er, 80er und 90er, mit einer Extradosis Mainstream von heute. Und auch die heillos dem musealen Dandytum verfallenen Brands haben ihren Hipster-Charme weitgehend aufgezehrt. So bewundernswert ihre Versessenheit auf archaisches Handwerk und Gentleman-Grandezza bleibt, so wenig sind viele ihrer Produkte noch außerhalb der Seiten eines Manufactum-Kataloges und ohne Fotos der Pitti Peacocks vermittelbar.
Besorgniserregender scheint mir, dass oft nicht einmal die Macher auf ihren teuren Messeständen sonderlich angetan wirken von ihren Offerten. Die Branche scheint müde, heiser geschrien an Durchhalteparolen, ermattet vom sozial-medialen Employer Branding und dem Zwang ständiger "Grüner wird's nicht"-Beteuerungen.
Bei aller Customer Centricity nämlich, dem Fokus auf „Was ihr wollt“, wissen viele Marken gar nicht mehr, was sie eigentlich wollen. Vielleicht hilft es da, mal nicht auf think big zu setzen, sondern auf think small. Und vor allem: think for yourself.
Zu viel Kostendruck, zu viel Corona, zu viel Inflation, zu viel „Influencing“? Oder ist an den Burnout-Symptomen einer sich üblicherweise an sich selbst berauschenden Branche der viel zitierte vibe shift Schuld? Jene Erwartungshaltung vor allem junger Käuferschichten, mit ihren Outfits jegliche Laune, Überzeugung und Persönlichkeitsfacette ausdrücken zu können. Jeden Tag aufs Neue und immer völlig anders. Ein von Trendscouts ausgemachtes – und hemmungslos vermarktetes – Phänomen, das viele Ateliers überfordern dürfte, sämtliche Leadtimes sprengt und die Hoffnung auf langfristige Markenloyalität für etliche Unternehmen ad absurdum führen muss. Wenn die Beschreibung der Gesellschaftsseismographen denn zutrifft und sich in signifikantem Umfang materialisiert.
Sollte demnach die Retail-Zukunft darin bestehen, einer ultra-wählerischen Klientel ständig per data mining in den Kopf gucken und jede ihrer Gefühlsregungen antizipieren zu müssen – vor allem: mit passenden Angeboten zum perfekten Zeitpunkt und in adäquater Preislage zu bedienen – droht vor allem im mittleren Marktsegment der Kollaps. Dieses Kunststück dürfte höchstens der Fast Fashion gelingen. Während sich die globalen Premium-Player sowie Luxus- und Sportswear-Giganten vor solch ruinösen Nimmersatten am POS in die Bubbles ihrer kostenintensiv aufgebauten und bespaßten Fangemeinden retten können.
Der Rest? Kann hoffen, dass sich die Orakel irren. Oder endlich wieder sein ganz eigenes Ding machen, statt hilflos unerreichbaren Zielen und Zielgruppen hinterher zu stolpern und sich swagger erkaufen zu wollen. Bei aller Customer Centricity nämlich, dem Fokus auf „Was ihr wollt“, wissen viele Marken nämlich gar nicht mehr, was sie eigentlich wollen. Das war in Florenz, Berlin und in vielen Lookbooks zu sehen. Also neben Verkaufen und die Welt retten, wie die anderen Mitbewerber auch. Vielleicht hilft es da, einen Augenblick nicht auf think big zu setzen, sondern auf think small. Und vor allem: think for yourself.
Ein mind shift, ein erweitertes Bewusstsein scheint gegenwärtig und zukünftig weitaus nötiger als geshiftete vibes. Gern organisationsübergreifend, wenigstens aber bei so vielen Einzelakteuren wie möglich. Bei aller Transformation nämlich, die diese selbstbewusste und redselige Branche seit Jahren für sich proklamiert, sieht die Wirklichkeit nicht nur stilistisch erstaunlich anders aus. Schockiert war ich beispielsweise als eine Expertin auf der Munich Fabric daran erinnerte, dass die Fußspuren, welche die Mode unserer (Um-)Welt aufdrückt, in den wichtigsten Bereichen das 1987 ermittelte Niveau nicht verlassen habe. Nicht leicht zu überprüfen, doch selbst der Status Quo 1997 oder 2007 wäre eine gigantische Pleite.
Eine weitere Fachfrau betonte zudem, dass jeder Klamottenkreislauf, in dem Recycling eine Station innehat, mehr neue Probleme erzeuge als bekannte lösen würde. Vor allem hinsichtlich dafür benötigter Logistik, Arbeitsaufwände und Ressourcen. Wirklich nachhaltig sei nur: nicht (über-) zu produzieren, nichts zu kaufen und wenn, dann bis zur Fadenscheinigkeit aufzutragen oder an Freunde weiterzureichen. Irgendwelche „conscious collections“ kamen in ihrem Vortrag nicht als Ansatz mit weltbewegendem impact.
Ein erfüllteres Leben is not for sale. Gleiches gilt für den “besseren“ Konsum. Klingt spaßbefreit, ist aber: wahr.
Noch eine Idee. Wie wäre es, nicht aus jeder Erkenntnis oder moralischen Nachjustierung wieder (nur) neue Produkte, Start-ups und Services zu basteln, die ohnehin prallvolle Vertriebskanäle weiter verstopfen. Wer sich für Nachhaltigkeit begeistert, könnte sich ja mal nicht in anfänglicher Euphorie mit zig Bambusfaser-Shirts, Bio-Smoothie-Abos und Onlinekursen über den Anbau von Sojasprossen in leeren Hafermilchkartons eindecken. Neu-Minimalisten brauchen meiner bescheidenen Meinung nach auch weder pastellfarbene Möbel nach japanischem Vorbild noch Ikebana-Sets per Post und regalweise „Less is more“-Ratgeber. Sondern, äh, nichts.
Und nur eventuell lassen sich Achtsamkeit und #selflove ja ganz ohne Meditationsapp, empowernde Pflegeserie und Jade-Eier von Goop praktizieren. Maybe. Als jemand, der sich selbst liebend gern mit Equipment für neue Spleens eindeckt, das bald darauf in Zimmerecken verstaubt, bin ich mittlerweile ziemlich sicher: Ein erfüllteres Leben is not for sale. Gleiches gilt für den “besseren“ Konsum. Klingt etwas spaßbefreit, ich weiß, aber ist, hm, wahr?
Solche Einsichten sind anstrengend und brauchen zerebralen Platz, keine Frage. Den auch ich mir hart vom Tagwerk, putzigen Hunde-TikToks und Netflix-Serien erkämpfen muss. Nicht immer erfolgreich. Was hilft: Sich nicht von Quatsch die Synapsen verkleistern zu lassen, der einzig darauf abzielt, die Erregungsökonomie zu befeuern. Hitzige Pronomen-Debatten, die nur Nicht-Betroffene führen, dafür aber umso lauter. Ringen um den Thron im TV-Urwald, wo jeder weiß, dass der einzige Dschungelkönig Simba heißt. Die Luxusprobleme der Kardashians, Hadids, Geissens und Lehfeld-Lindners. Who gives a flying f*ck?! Twitter-Häkchen, Boutiquen im Meta-Verse, steuerflüchtige YouTuber in Dubai, Popstars als Modeschöpfer … Kann eigentlich alles weg, oder?!
Zu anderen zu schielen, bringt selten etwas. You do you. Für die meisten Akteure gibt es in Wahrheit und auf Dauer ohnehin keine andere Wahl. Was übrigens überhaupt nicht schlimm ist.
Wobei, über Pharrell Williams musste ich doch länger grübeln als geplant. Nicht, weil ich zwischen Sinn und Unsinn seiner Kür zum Menswear-Impresario schwankte. Schließlich kuratiert Monsieur Arnault sein edles Universum so sorgfältig wie visionär. Nein, ich fragte mich dies: Wenn für Werbebotschafter und Atelierchefs die Währung nun Weltstar heißt, was bedeutet das für den Modemittelstand in Deutschland? Dort, wo man eher in Liefers/Loos‘, Schweinsteigers, Zimmermanns und obskuren Sportvereinen denkt. Klar, Louis Vuitton spielt in einer anderen Liga und auch der neuerliche Höhenflug in Metzingen dürften dreistellige Millionenbeträge von üblichen Marketingbudgets entfernt sein. Trotzdem: Die wachsende Bedeutung von Ruhm aus Entertainment oder Sport für Top-Kreative an der Unternehmensspitze dürfte ein weiteres schwer zu erledigendes To-do für viele Marken sein.
Zu anderen zu schielen, bringt selten etwas. You do you. Was immer das für Sie persönlich heißt, Ihre brand, das ist richtiger und wichtiger als jede Case Study, der man mit teurer Agenturhilfe nacheifern soll. Stattdessen braucht es Menschen, die sich und ihrer Sachkenntnis vertrauen, ihrem Team, ihrer Erfahrung, ihrer Nische. Die nicht auf Teufel komm raus alles skalieren wollen und bloß noch in kompletten „Produktwelten“ denken können. Die darauf vertrauen, dass sich Qualität und Exzellenz durchsetzen. Für die meisten Akteure gibt es in Wahrheit und auf Dauer ohnehin keine andere Wahl. Was übrigens, Achtung: mind shift, überhaupt nicht schlimm ist.
Ich muss in den letzten Tagen oft an jene kleine Keramikwerkstatt, die ich vor Jahren in Kyoto besuchte. Seit rund 400 Jahren werden hier Matcha-Schalen hergestellt. Einzelstücke, die Generationen überdauern, wie gemacht für eine Zeremonie. Mit Scherbenhaufen voller Ausschuss, wo das Resultat nach dem Brennen den Standards des Meisters nicht genügte. Obwohl die Traditionsfirma aktuell von zwei Mittdreißigern geleitet wird, hält sich dort niemand mit Content-Strategien für Social-Kanäle und Kollabos mit teafluencern auf. Auch ein neues Logo alle paar Jahre braucht keiner. Volle Konzentration aufs Handwerk, ein offener Geist und feinste Tonerde. Das war's. Mir scheint dieser case ökonomisch valide und für die mentale Gesundheit förderlich. Abwarten und Tee trinken, das wäre wirklich mal ein mind shift für die Modebranche.
Siems Luckwaldt ist seit rund 20 Jahren ein Experte für die Welt der schönen Dinge und ein Kenner der Menschen, die diese Welt möglich machen. Ob in seinem aktuellen Job als Lifestyle Director von Capital und Business Punk, für Lufthansa Exclusive, ROBB Report oder das legendäre Financial Times-Supplement How To Spend It.
Oder seinem eigenen Medium LuxusProbleme. Alle zwei Wochen in Ihrer Inbox: seine Sicht auf News und Trends der Branche, aufs moderne Arbeitsleben und Phänomene der Popkultur. Wortgewaltig, pointiert, höchstpersönlich. Und das zu einem gar nicht luxuriösen Preis, nämlich ab 4 Euro pro Monat. Werden Sie jetzt Teil einer extrem attraktiven, hochbegabten Community. Hier geht es direkt zum Abo.