Jogginghose, T‑Shirt, Hoodie. Deutschland im kollektiven Freizeit-Modus. Spätestens seit Corona kümmert Karl Lagerfelds legendäre Aussage „wer Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren“ definitiv niemanden mehr. Ob im Park oder Zoom-Call, beim Einkaufen oder Spazierengehen, ist der Leisure-Look für alle Lebenslagen gültig, und selbst im Homeoffice hat man sich daran gewöhnt, dass einem bei Videokonferenzen Chef, Kollegen und Geschäftspartner im ultimativen Freizeitlook aus dem Wohnzimmer entgegenblicken. In Duisburg ging der Hang zum Bequemen sogar so weit, dass eine Mutter mitsamt ihrem Kind aus dem Supermarkt geworfen wurde, weil sie beide mit Bademantel, Schlafanzug und Puschen ihre Einkäufe erledigen wollten.
Ganz so enthemmt ist die Mehrheit der Deutschen (noch) nicht. Doch wenn etwas in diesem Jahr im Modehandel funktioniert, sind es Casual-Teile, während alles rund um Anlass und Business ungefähr so populär ist wie Donald Trump aktuell im Weißen Haus. „Unsere Stärke ist jetzt unser Problem“, erklärte Olymp-Chef Mark Bezner kürzlich im TW-Interview und kündigte eine Offensive in Casual-Produkten an – genauso wie viele andere Unternehmen, deren Fokus vor Covid-19 auf Konfektion und Business lag. Das trifft HAKA genauso wie DOB. Bei den Damen ist Juvia das neue Vorbild für die bevorstehenden Orderrunde Herbst 2021, die in wenigen Wochen beginnt.
Die extreme Fokussierung auf Casualwear ist vor dem Hintergrund, dass Kleidung in der Pandemie zum ultimativen Rückzugsort geworden ist, nachvollziehbar. Im Lockdown hat jeder für sich das Maximum an Bequemlichkeit entdeckt – und damit etwas beschleunigt, was sich vor Corona schon abgezeichnet hat, nämlich das alles, was lässig ist, eine neue Dimension in der Mode erhält. Auch wenn vermutlich nicht jeder für den Rest seines Lebens nur noch in Jogginghosen herumlaufen oder Sweatshirts tragen wird, ist der Trend zu Komfort nicht mehr zu stoppen – genauso wie kein High Heel dieser Welt eine ernsthafte Konkurrenz im Alltag für den Sneaker bedeutet.
Die Pandemie lässt keinen Raum für modische Exzesse. Dass noch nicht einmal den internationalen Designern der Sinn nach Extravaganzen steht, war in den jüngsten Schauen in Mailand und Paris für nächstes Frühjahr nicht zu übersehen. Leitbildmarken wie Celine, Louis Vuitton und Balenciaga setzen auf Lässigkeit und Sportivität, mit Styles, die für Couch und Cocktail funktionieren.
Das ist der entscheidende Punkt: Wir brauchen Vernunft und Verführung. Wenn jetzt jeder Anbieter auf Hoodies, Sweats und Joggpants zielt, bleibt die Frage, wie viele Casual-Teile jeder Konsument sich zulegen wird – und ob es glaubwürdig ist, wenn ein Hersteller mit Konfektionskompetenz sich auf einmal als Hoodie-Spezialist ausgibt. Markt- und Trendforscher gehen davon aus, dass der Konsum sich mittelfristig bei zehn bis 15 Prozent weniger einpendelt und die Kunden bewusster einkaufen werden. Das heißt, dass in Zukunft jedes Teil auf den Punkt sein muss, sei es in der Kollektion oder in den Sortimenten. Mehr denn je wird es darauf ankommen, die Kunden mit einem glaubwürdigen Produkt zu überzeugen – oder mit einem super Teil vom Hocker zu reißen und zum Kauf zu verführen.
„Covid-19 ist nicht das Ende der Mode“, titelte die New York Times vor wenigen Wochen. Nach Homeoffice wird eine riesengroße Lust kommen auszugehen, sich mit Freunden zu treffen und Partys zu feiern. Das Nachholbedürfnis wird größer denn je sein, und dafür werden wir uns aufbrezeln – und sicher nicht mit Jogginghose tanzen gehen. Wenn nächstes Jahr tatsächlich der Impfstoff kommt, wird das womöglich schneller real als gedacht. Und selbst wenn wir ohne Impfstoff auskommen müssen, braucht es die kleinen Spaßbringer in den Sortimenten, um ein Stück weit den schwierigen Alltag zu kompensieren.