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Das Kaufhaus für die 15-Minuten-Stadt

Während in Deutschland seit Jahrzehnten der Abgesang auf die Warenhäuser angestimmt (und mit der Signa-Krise jetzt wieder besonders laut) wird, kauft in Frankreich ein Projektentwickler im großen Stil City-Einkaufszentren und Kaufhäuser auf. Um dann was ganz anderes aus ihnen zu machen. Barbara Markert hat sich das angeschaut.
Barbara markert
Bar­ba­ra Mar­kert

 „Wer kauft heut­zu­ta­ge ein Kauf­haus?“, frag­te ange­sichts der aktu­el­len Kri­se der Signa-Grup­pe der renom­mier­te Wirt­schafts­pro­fes­sor Ger­rit Hei­ne­mann von der Hoch­schu­le Nie­der­rhein. Die Aus­sa­ge des Retail-Exper­ten fand in den Medi­en viel Wider­hall. Wahr­schein­lich, weil vie­le Redak­teu­re der eher rhe­to­risch gemein­ten Fra­ge des Pro­fes­sors in Zei­ten von Infla­ti­on und Kon­sum­flau­te durch­aus zustim­men. Doch so Head­line-träch­tig die Fra­ge auch sein mag, soll­te man sie nicht etwas kon­kre­ter stel­len? Müss­te sie nicht eher lau­ten: Wer kauft schon ein Kauf­haus in Deutsch­land? Denn ziem­lich genau zwei Wochen, bevor das Han­dels­im­pe­ri­um von René Ben­ko in die Knie ging, wech­sel­te in Frank­reich erneut ein Kauf­haus den Besit­zer. Das berühm­te Pari­ser Waren­haus Le BHV Marais, einst bekannt unter dem Namens Le Bazar de l‘Hôtel de Ville, wur­de ver­äu­ßert – mit­samt sei­nem Able­ger in einem Ein­kaufs­zen­trum nahe Ver­sailles.

Dabei hat­te der Ver­käu­fer, die Gale­ries Lafay­et­te-Grup­pe, immer wie­der betont, dass „Le BHV nicht zum Ver­kauf ste­he“. Doch im Früh­jahr 2023 änder­ten die Mana­ger ihre Mei­nung, weil sie „einen Käu­fer mit Visio­nen“ getrof­fen hat­ten. Die­ser heißt Fré­dé­ric Mer­lin, ist 32 Jah­re alt, Jura-Stu­di­en­ab­bre­cher und gelern­ter Immo­bi­li­en-Kauf­mann. Zusam­men mit sei­ner Schwes­ter Mary­line und einem Stu­den­ten­dar­le­hen von 15.000 Euro star­te­te er mit gera­de mal 20 Jah­ren sei­ne ers­te Fir­ma, eine Bera­tungs­ge­sell­schaft für Immo­bi­li­en. Drei Jah­re lang gaben die bei­den Mer­lins Inves­to­ren und Bau­trä­gern gute Rat­schlä­ge, dann stie­gen sie selbst in das Geschäft ein als Immo­bi­li­en-Inves­to­ren für Reha­bi­li­tie­rung von Wohn- und Büro­raum in Stadt­zen­tren. Ab 2018 spe­zia­li­sier­ten sie sich auf maro­de Ein­kauf­zen­tren in den Innen­städ­ten.

Was bis dato wie eine schö­ne Suc­cess-Sto­ry im ame­ri­ka­ni­schen Stil klingt, bekommt genau hier einen visio­nä­ren Aspekt. Denn die Umge­stal­tung der auf­ge­ge­be­nen und leer­ste­hen­den Shop­ping­malls gelang jedes Mal. War­um? Weil Fré­dé­ric Mer­lin und sei­ne Schwes­ter „out of the box“ den­ken. Aus ehe­ma­li­gen Mode‑, Beau­ty- und Elek­tro­nik-Geschäf­ten wur­de ein Food-Bazar mit Restau­rants, loka­len Bau­ern­markt und Cafés. Oder ein Dienst­leis­tungs-Zen­trum mit Kin­der­gar­ten und Ser­vice-Points, an denen man sich sei­nen Lebens­lauf über­ar­bei­ten las­sen kann. Oder gar eine Spiel­höh­le mit Indoor-Kar­ting-Bahn, weil um die Ecke sich ein ande­res, viel moder­ne­res Shop­ping­zen­trum befand, mit dem man nicht kon­kur­rie­ren woll­te. Die ehe­mals leer­ste­hen­den Flä­chen sind nach der Umge­stal­tung fast alle kom­plett belegt, die einst unwirt­schaft­li­chen Innen­stadt-Malls, wie es aus­sieht, ren­ta­bel.

Nach den Ein­kauf­zen­tren kamen die Kauf­häu­ser dran. Als nach der für den Han­del schwie­ri­gen Pan­de­mie-Zeit Gale­ries Lafay­et­te sich von sei­nen defi­zi­tä­ren Depen­dan­cen in der Pro­vinz trenn­te, grif­fen Fré­dé­ric und Mary­line 2021 gleich bei sie­ben Stand­or­ten zu. Die Pro­vinz-Kauf­häu­ser lau­fen wei­ter unter dem ursprüng­li­chen Namen, aber die Geschwis­ter aus Lyon sind eif­rig dabei, auch hier ihre Visio­nen umzu­set­zen.

Die eigentliche Frage lautet nicht: Wer kauft heute ein Kaufhaus? Sondern: Welche Produkte oder Dienstleistungen sollten in der Innenstadt erhältlich sein?

Was ist das Erfolgs­re­zept? Fré­dé­ric Mer­lin glaubt, wie er sagt, mit tiefs­ter Über­zeu­gung an die Innen­stadt. „Vie­len Ein­kaufs­zen­tren und Kauf­häu­sern fehlt es an Dyna­mik. Man muss also inves­tie­ren, um den Han­del in der Innen­stadt Leben und Sinn zurück­zu­ge­ben.“ Genau hier hapert es aber mei­ner Mei­nung nach an vie­le Stand­or­ten in Deutsch­land. Glau­ben wir über­haupt noch an die Innen­städ­te? Beschäf­ti­gen wir uns wirk­lich mit den Sze­na­ri­en der Stadt­pla­ner, die seit Jahr­zehn­ten nicht müde wer­den, die 15-Minu­ten-Städ­te als Lösung vie­ler Pro­ble­me (vor allem öko­lo­gi­scher) zu pro­pa­gie­ren? Die Idee hin­ter der 15-Minu­ten-Stadt ist bekannt­lich, dass die Bewoh­ner einer Stadt in maxi­mal 15 Minu­ten die wich­tigs­ten Anlauf­stel­len des All­tags errei­chen kön­nen.

Die Ant­wort geben die deut­schen Medi­en selbst. Die Head­line, die Goog­le als ers­tes bei der Suche aus­spuckt, lau­tet: „15-Minu­ten-Städ­te: von der Visi­on zur Ver­schwö­rungs­theo­rie“. Ein Bei­trag vom Baye­ri­schen Rund­funk. Das spricht Bän­de und zeigt unse­re Offen­heit dem The­ma gegen­über. Daher wun­dert es auch nicht, dass sich die Gale­ries Lafay­et­te aus dem deut­schen Markt ver­ab­schie­den. Der Miet­ver­trag der Filia­le in Ber­lin läuft Ende 2024 aus, das kommt gele­gen. Der Stand­ort wird auf­ge­ge­ben. Die Fran­zo­sen inves­tie­ren lie­ber wei­ter in Chi­na, Indi­en oder im Mitt­le­ren Ori­ent.

Und was pas­siert nun nach dem Ver­kauf des BHVs mit­ten in Paris? Dort, wo Pari­ser ihre Wasch­ma­schi­ne, Hei­zun­gen und Gar­di­nen­stan­gen kau­fen? Dort, wo ich nach dem Umzug, als die schlam­pi­gen Möbel­pa­cker die extremst sel­te­nen Schrau­ben mei­nes Bet­tes ver­lo­ren hat­ten, auf­schlug mit einer ein­zi­gen noch übri­gen Schrau­be in mei­ner Hand und hek­tisch frag­te: „Haben sie so was?“ Der Ver­käu­fer in der Heim­wer­ker­ab­tei­lung im Unter­ge­schoß lächel­te nur (viel­leicht wegen mei­nes holp­ri­gen Fran­zö­sisch oder mei­ner ver­zwei­fel­ten Mie­ne) und kram­te in den Schub­lä­den. „Na klar. Hier! Wie vie­le brau­chen Sie?“ Das BHV, mit­ten in der Stadt, gegen­über vom Rat­haus, hat mir mehr als ein­mal aus der Mise­re gehol­fen. Und mit die­ser Erfah­rung bin ich nicht allein. Als der Ver­kauf publik wur­de, war daher mei­ne größ­te Sor­ge: Was pas­siert mit der Schrau­ben­ab­tei­lung? Die Erlö­sung kam sofort: Gleich im ers­ten Arti­kel zur Über­nah­me las ich die­ses Zitat von Fré­dé­ric Mer­lin: „Ich möch­te aus dem BHV das Kauf­haus der Pari­ser machen. Und dazu gehört natür­lich der Heim­wer­ker­markt im Unter­ge­schoß und das Ange­bot für die Haus­aus­stat­tung.“ Uff.

Der so gelob­te Visio­när Fré­dé­ric Mer­lin hat also alles ver­stan­den. Denn in einer 15-Minu­ten-Stadt soll­te man kein Auto brau­chen, um eine Schrau­be nach­zu­kau­fen. Oder einen kaput­ten Tür­griff. Oder die Ersatz-Glüh­bir­ne für Abzugs­hau­be über dem Herd. Was dem 32-Jäh­ri­gen sonst noch ein­fällt für die Zukunft die­ses über 160 Jah­re alten Kauf­hau­ses bleibt span­nend. Was pas­siert mit der Mode? Was mit der Bas­tel­ab­tei­lung? Was mit dem Beau­ty-Shop-in-Shops im Erd­ge­schoß. Die Beant­wor­tung die­ser Fra­gen könn­te auch für deut­sche Insol­venz­ver­wal­ter des Ben­ko-Nach­las­ses inter­es­sant sein. Denn die eigent­li­che Fra­ge lau­tet nicht: Wer kauft heu­te ein Kauf­haus? Son­dern: Wel­che Pro­duk­te oder Dienst­leis­tun­gen soll­ten in der Innen­stadt erhält­lich sein? Was könn­te im Zen­trum nach­ge­fragt und was soll­te wie ange­bo­ten wer­den, damit Kun­den und Händ­ler glei­cher­ma­ßen pro­fi­tie­ren?

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