„Wer kauft heutzutage ein Kaufhaus?“, fragte angesichts der aktuellen Krise der Signa-Gruppe der renommierte Wirtschaftsprofessor Gerrit Heinemann von der Hochschule Niederrhein. Die Aussage des Retail-Experten fand in den Medien viel Widerhall. Wahrscheinlich, weil viele Redakteure der eher rhetorisch gemeinten Frage des Professors in Zeiten von Inflation und Konsumflaute durchaus zustimmen. Doch so Headline-trächtig die Frage auch sein mag, sollte man sie nicht etwas konkreter stellen? Müsste sie nicht eher lauten: Wer kauft schon ein Kaufhaus in Deutschland? Denn ziemlich genau zwei Wochen, bevor das Handelsimperium von René Benko in die Knie ging, wechselte in Frankreich erneut ein Kaufhaus den Besitzer. Das berühmte Pariser Warenhaus Le BHV Marais, einst bekannt unter dem Namens Le Bazar de l‘Hôtel de Ville, wurde veräußert – mitsamt seinem Ableger in einem Einkaufszentrum nahe Versailles.
Dabei hatte der Verkäufer, die Galeries Lafayette-Gruppe, immer wieder betont, dass „Le BHV nicht zum Verkauf stehe“. Doch im Frühjahr 2023 änderten die Manager ihre Meinung, weil sie „einen Käufer mit Visionen“ getroffen hatten. Dieser heißt Frédéric Merlin, ist 32 Jahre alt, Jura-Studienabbrecher und gelernter Immobilien-Kaufmann. Zusammen mit seiner Schwester Maryline und einem Studentendarlehen von 15.000 Euro startete er mit gerade mal 20 Jahren seine erste Firma, eine Beratungsgesellschaft für Immobilien. Drei Jahre lang gaben die beiden Merlins Investoren und Bauträgern gute Ratschläge, dann stiegen sie selbst in das Geschäft ein als Immobilien-Investoren für Rehabilitierung von Wohn- und Büroraum in Stadtzentren. Ab 2018 spezialisierten sie sich auf marode Einkaufzentren in den Innenstädten.
Was bis dato wie eine schöne Success-Story im amerikanischen Stil klingt, bekommt genau hier einen visionären Aspekt. Denn die Umgestaltung der aufgegebenen und leerstehenden Shoppingmalls gelang jedes Mal. Warum? Weil Frédéric Merlin und seine Schwester „out of the box“ denken. Aus ehemaligen Mode‑, Beauty- und Elektronik-Geschäften wurde ein Food-Bazar mit Restaurants, lokalen Bauernmarkt und Cafés. Oder ein Dienstleistungs-Zentrum mit Kindergarten und Service-Points, an denen man sich seinen Lebenslauf überarbeiten lassen kann. Oder gar eine Spielhöhle mit Indoor-Karting-Bahn, weil um die Ecke sich ein anderes, viel moderneres Shoppingzentrum befand, mit dem man nicht konkurrieren wollte. Die ehemals leerstehenden Flächen sind nach der Umgestaltung fast alle komplett belegt, die einst unwirtschaftlichen Innenstadt-Malls, wie es aussieht, rentabel.
Nach den Einkaufzentren kamen die Kaufhäuser dran. Als nach der für den Handel schwierigen Pandemie-Zeit Galeries Lafayette sich von seinen defizitären Dependancen in der Provinz trennte, griffen Frédéric und Maryline 2021 gleich bei sieben Standorten zu. Die Provinz-Kaufhäuser laufen weiter unter dem ursprünglichen Namen, aber die Geschwister aus Lyon sind eifrig dabei, auch hier ihre Visionen umzusetzen.
Die eigentliche Frage lautet nicht: Wer kauft heute ein Kaufhaus? Sondern: Welche Produkte oder Dienstleistungen sollten in der Innenstadt erhältlich sein?
Was ist das Erfolgsrezept? Frédéric Merlin glaubt, wie er sagt, mit tiefster Überzeugung an die Innenstadt. „Vielen Einkaufszentren und Kaufhäusern fehlt es an Dynamik. Man muss also investieren, um den Handel in der Innenstadt Leben und Sinn zurückzugeben.“ Genau hier hapert es aber meiner Meinung nach an viele Standorten in Deutschland. Glauben wir überhaupt noch an die Innenstädte? Beschäftigen wir uns wirklich mit den Szenarien der Stadtplaner, die seit Jahrzehnten nicht müde werden, die 15-Minuten-Städte als Lösung vieler Probleme (vor allem ökologischer) zu propagieren? Die Idee hinter der 15-Minuten-Stadt ist bekanntlich, dass die Bewohner einer Stadt in maximal 15 Minuten die wichtigsten Anlaufstellen des Alltags erreichen können.
Die Antwort geben die deutschen Medien selbst. Die Headline, die Google als erstes bei der Suche ausspuckt, lautet: „15-Minuten-Städte: von der Vision zur Verschwörungstheorie“. Ein Beitrag vom Bayerischen Rundfunk. Das spricht Bände und zeigt unsere Offenheit dem Thema gegenüber. Daher wundert es auch nicht, dass sich die Galeries Lafayette aus dem deutschen Markt verabschieden. Der Mietvertrag der Filiale in Berlin läuft Ende 2024 aus, das kommt gelegen. Der Standort wird aufgegeben. Die Franzosen investieren lieber weiter in China, Indien oder im Mittleren Orient.
Und was passiert nun nach dem Verkauf des BHVs mitten in Paris? Dort, wo Pariser ihre Waschmaschine, Heizungen und Gardinenstangen kaufen? Dort, wo ich nach dem Umzug, als die schlampigen Möbelpacker die extremst seltenen Schrauben meines Bettes verloren hatten, aufschlug mit einer einzigen noch übrigen Schraube in meiner Hand und hektisch fragte: „Haben sie so was?“ Der Verkäufer in der Heimwerkerabteilung im Untergeschoß lächelte nur (vielleicht wegen meines holprigen Französisch oder meiner verzweifelten Miene) und kramte in den Schubläden. „Na klar. Hier! Wie viele brauchen Sie?“ Das BHV, mitten in der Stadt, gegenüber vom Rathaus, hat mir mehr als einmal aus der Misere geholfen. Und mit dieser Erfahrung bin ich nicht allein. Als der Verkauf publik wurde, war daher meine größte Sorge: Was passiert mit der Schraubenabteilung? Die Erlösung kam sofort: Gleich im ersten Artikel zur Übernahme las ich dieses Zitat von Frédéric Merlin: „Ich möchte aus dem BHV das Kaufhaus der Pariser machen. Und dazu gehört natürlich der Heimwerkermarkt im Untergeschoß und das Angebot für die Hausausstattung.“ Uff.
Der so gelobte Visionär Frédéric Merlin hat also alles verstanden. Denn in einer 15-Minuten-Stadt sollte man kein Auto brauchen, um eine Schraube nachzukaufen. Oder einen kaputten Türgriff. Oder die Ersatz-Glühbirne für Abzugshaube über dem Herd. Was dem 32-Jährigen sonst noch einfällt für die Zukunft dieses über 160 Jahre alten Kaufhauses bleibt spannend. Was passiert mit der Mode? Was mit der Bastelabteilung? Was mit dem Beauty-Shop-in-Shops im Erdgeschoß. Die Beantwortung dieser Fragen könnte auch für deutsche Insolvenzverwalter des Benko-Nachlasses interessant sein. Denn die eigentliche Frage lautet nicht: Wer kauft heute ein Kaufhaus? Sondern: Welche Produkte oder Dienstleistungen sollten in der Innenstadt erhältlich sein? Was könnte im Zentrum nachgefragt und was sollte wie angeboten werden, damit Kunden und Händler gleichermaßen profitieren?