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Zwischen China und Jurassic Park

Es könnte sein, dass sich der Handel in den nächsten 20 Monaten stärker verändern wird als in den 20 Jahren zuvor, sagt Stefan Wenzel. Die Disruptionen betreffen nicht nur die Stationären, sondern auch Online Retailer, die zuletzt auf der Gewinner-Spur waren.
Stefan wenzel
Stefan Wenzel

Das Internet hat den Zugang zu Informationen und Inhalten und deren Distribution demokratisiert. Ähnlich hat es sich auf den Handel ausgewirkt. Hier hat das Internet den Zugang der Anbieter zu Kunden bzw. den Zugang der Kunden zu Sortimenten demokratisiert und die natürlichen Grenzen physischer Standorte bei der Distribution überwunden.

Von diesem Wandel haben in den letzten 20 Jahren diejenigen profitiert, die sich auf die Chancen des Unaufhaltsamen konzentriert haben, anstatt ihre Energie in die Bewahrung des Verlorenen zu investieren. Aber auch vor den Profiteuren der ersten Welle baut sich eine neue auf und es könnte sein, dass sich der Handel in den nächsten 20 Monaten stärker verändern wird als in den 20 Jahren zuvor. Die mutmaßlich anstehenden nächsten Disruptionen finden sowohl auf der Kunden- als auch auf der Sortimentsseite statt.

Auf der Kundenseite setzen die viel kritisierten ‘Consumer-to-Manufacturer’-Konzepte wie Shein neue Maßstäbe für die Relevanzerwartungen der Kunden. Bestehende Nachfrage mit hoher Treffsicherheit hochpersonalisiert zu bedienen, wird aus Kundensicht zur neuen Nulllinie. Austauschbare Warenlager mit manueller Filterfunktion werden verschwinden oder müssen Irrelevanz über Rabatte überkompensieren. Aber auch das Medienverhalten und die Medienpräferenzen der nachwachsenden Umsatzkohorten rund um Social‑, Bewegtbild- und Live-Formate werden darüber entscheiden, ob man als Anbieter überhaupt noch stattfindet. Das sind keine kleinen Änderungen im Kommunikationskalender und auch keine Aufgabe für die Marketing-Trainees, sondern die Frage, ob es gelingt, ein im Kern glaubwürdiger Teil der Lebensrealität dieser Generation zu sein.

Das größte Disruptionspotenzial auf der Kundenseite könnte aber der Vormarsch von KI-basierten Assistenten auf den Betriebssystemen der Mobiltelefone haben. Die kürzlich von Apple vorgestellte „Apple Intelligence” fungiert als Schnittstelle zwischen Nutzer und Apps und Services. Die Apple-KI entscheidet, was passiert. Welches Produkt, welche Marke, welcher Service zum Beispiel am besten zu den Vorlieben, dem Standort und dem aktuellen Gesundheitszustand des Nutzers passt, weiß niemand besser als sein Smartphone. Da zudem alle Stammdaten und Zahlungsinformationen sicher gespeichert sind, müssen diese bei keinem Shop mehr immer wieder eingegeben werden. Das übernimmt Apple und der Händler oder Hersteller rutscht in die zweite Reihe und liefert nur noch die Bestellung aus. Und der Kundenzugang? Der ist weg.

Inwieweit die Strahlkraft von Marken “made in…” den Preisaufschlag gegenüber der Direktlieferung ohne Label siegen wird, wird sich zeigen.

So beeindruckend die nächste Welle der Disruption beim Kundenzugang ist, die beginnende Welle auf der Sortimentsseite muss sich nicht verstecken, wird bislang aber wenig beachtet. Denn die Rückseite der ‘Consumer-to-Manufacturer’- Medaille heißt ‘Factory-to-Consumer’ und benennt damit eine tiefere Ebene der Demokratisierung des Sortimentszugangs.

Tiefer, weil nunmehr das Internet den herstellenden Fabriken direkten Zugang zu Endverbrauchern gibt und alle Zugangsbarrieren von Marketing über Bezahlung bis Logistik entfernt. Was es bedeutet, wenn grundsätzlich jedes Produktionsland und jede Fabrik globalen Zugang zu Endverbrauchern erhält, kann man sich vorstellen. Und bei wie vielen die Strahlkraft von Marken made in…” den Preisaufschlag gegenüber der Direktlieferung ohne Label siegen wird, wird sich zeigen.

Eine weitere Dimension der Disruption des Sortimentszugangs ist die Demokratisierung des Zugangs zur Produktion. Bislang war es professionellen Strukturen und Mengen vorbehalten, professionelle Produktion zu beauftragen. Dieser Umstand verändert sich jedoch. Dank KI und globalem Netz ist es jedem Einzelunternehmer auf der Welt möglich, Produkte in Kleinstmengen und auf Basis von Beispielbildern mit wenigen Klicks in Spezifikationen für Lieferanten zu übersetzen und mit ein paar weiteren Klicks per Ausschreibung den passenden Lieferanten zu finden. Wer dies für eine Utopie hält, dem sei ein Blick auf die ‘Smart Services’ auf der Alibaba B2B-Plattform oder auf Firmen wie das VC-finanzierte Pietra Studio empfohlen.

Die wertstiftende Abgrenzung zum Ab-Werk-Verkauf ist der Schlüssel zur Wertschöpfung in der Zukunft.

Was bedeutet das?

Einige der Profiteure der ersten Wellen sind inzwischen groß und langsam geworden. Sie haben starre Strukturen entwickelt und produzieren Angebote und Kundenerlebnisse entlang ebendieser. Conway’s Law in full swing. B2C-Unternehmen, die vor 10 oder 15 Jahren noch dynamisch und anpassungsfähig waren, wirken heute zum Teil wie Dinosaurier mit Schwerpunkt B2B-Monetarisierung.

Gimmicks, Features und PR-Nebelkerzen helfen aber nicht. Omnichannel, Kundenkarten, Chatbots, neue Logos & Co. verpuffen, wenn der Kern darunter nicht mehr bei der Zielgruppe räsoniert. Und Retail Media verlängert in solchen Fällen lediglich die Dauer des Sinkflugs, sofern die Erlöse nicht für notwendige Arbeiten am Kern eingesetzt werden.

Die beste Lebensversicherung ist und bleibt Relevanz und Sichtbarkeit in der Zielgruppe. Allerdings ändern sich die Anforderungen aktuell dynamisch. In den kommenden Monaten ist es daher wichtig, sich nicht von den Berichten und der Dynamik verrückt machen zu lassen, sondern die Entwicklung aufmerksam zu verfolgen und vor allem am eigenen Angebot und der eigenen Relevanz zu arbeiten. Die wertstiftende Abgrenzung zum Ab-Werk-Verkauf ist der Schlüssel zur Wertschöpfung in der Zukunft.

Eine solche Strategie ist nichts Abstraktes, sondern die Antwort auf die Frage nach dem Spielfeld, auf dem man sein möchte, und wie man darauf gewinnt. Die unmissverständliche Beantwortung fällt schwerer, als man denkt. Der Versuch lohnt aber.

Ste­fan Wen­zel ist seit mehr als 20 Jah­ren im Digi­ta­len Han­del und einer der pro­fi­lier­tes­ten Köp­fe der Bran­che. Sei­ne Vita beinhal­tet unter ande­rem Sta­tio­nen als Geschäfts­füh­rer für Unter­neh­men wie Ebay, brand4friends, Otto, Mexx und Tom Tail­or Digi­tal. Ste­fan Wen­zel unter­stützt Fir­men, Grün­der und Geschäfts­füh­rer als digi­ta­ler Bei­rat, ist regel­mä­ßi­ger Spre­cher auf Fach­kon­fe­ren­zen, Inter­­­­­view- und Pod­­­­­cast-Gast. www.stefanwenzel.com

Bei­trä­ge von Ste­fan Wen­zel