Wir müssen für die Millennials mal kurz zurück ins letzte Jahrhundert, Mitte der 90er. Die digitale Zukunft ist gerade am Start, das Internet wird kommerziell, eine Online-Seite namens Amazon verkauft ihr erstes Buch und die Playstation wird geboren.
Zum gleichen Zeitpunkt ein paar Tausend Kilometer weiter nimmt die Konsolidierung der Warenhäuser in Deutschland Fahrt auf: 1996 übernimmt Kaufhof Horten, und drei Jahre später heiraten Karstadt und Quelle. Der zunehmende Wettbewerb durch die Grüne Wiese, Spezialisten und Vertikale zeigt Spuren. Möbel, Weiße Ware, Haustiere, Elektronik – immer mehr Abteilungen werden aufgegeben, weil nicht mehr ertragreich. Wie Bodybuilder mit Muskelschwund versuchen die Warenhaus-Strategen die nächsten Jahre mit viel zu großen Häusern den Wettbewerb mit modernen Einkaufszentren und beweglicheren Marken und Retailern. Man investiert anorganisch, setzt auf Eigenmarken, investierte in TV-Shopping und Mailorder, selbst beim Internet ist man früh vorn dabei.
Aber mit jedem erfolglosen Strategieschwenk nimmt der Muskelabbau zu. Denn vor allem fehlt die Kaufmanns DNA – die Fähigkeit, mit dem Einkauf und Verkauf von Ware eine angemessene Marge zu erzielen. Wenn am Ende eines Jahres weniger als 45% Rohertrag übrigbleiben und davon Mieten, Servicepersonal, Marketing und Investitionen bezahlt werden müssen, dann ist die Luft in 1a-Lagen zu dünn.
Schon zu Beginn der 90er eröffnet man sich Finanzierungsquellen bei der Industrie. Marken übernehmen das Investieren in die Fläche (Shop-in-Shop), liefern Ware mit eigenem Abverkaufsrisiko (Depot) oder verkaufen mit eigenem Personal (Concession). In der Folge geht das Kuratieren verloren, auf den Etagen entsteht ein wilder Mix von Stammabteilungen und Markenshops. Wer als Lieferant die größten Investitionszuschüsse zahlt, bekommt den Platz an der Rolltreppe. Dazwischen immer mal wieder ein Call to Action (Wühltisch), alles mit der Exceltabelle kuratiert.
Wer ausschließlich Zahlen über die Flächenaufteilung entscheiden lässt, wer Lieferanten seine besten Plätze abtritt, der hat irgendwann keinen USP mehr. „Alles unter einem Dach“, kennen Millennials daher nur noch vom „Hotel Mama“.
Wer ausschließlich Zahlen über die Flächenaufteilung entscheiden lässt, wer Lieferanten seine besten Plätze abtritt, die Serviceabteilung in der obersten Etage versteckt, der hat irgendwann keinen USP mehr. „Alles unter einem Dach“, kennen Millennials daher nur noch vom „Hotel Mama“.
Gehen jetzt die neuen digitalen Marktplätze den Weg des alten Warenhauses? Oder sind Ähnlichkeiten rein zufällig? Und was bedeutet all das für die Zukunft dieser Vertriebswege?
Eingetrübte Wachstumsaussichten: Bei Amazon gab es jüngst Gewinnwarnung, bei Asos nimmt der CEO überraschend seinen Hut, Yoox Net-A-Porter Mr. Porter stehen wegen Erfolglosigkeit wieder zum Verkauf, Zalando muss die Marketingausgaben um 50% steigern, um den Umsatz-Forecast zu halten – und all das im Jahr Eins nach dem perfekten E‑Com-Sturm und sechs Monaten Marktausschluss der stationären Wettbewerber? Geht dem E‑Com-Wachstum die Puste aus? Kann schon sein, aber noch sind Ideen und Kapital reichlich vorhanden. Also nicht zu früh freuen.
Anorganische Strategien: Farfetch kauft Retailer und Marken, Boohoo erwirbt ein totes Warenhaus, und Amazon versucht das zehnte Retailkonzept. Das klingt nicht nach „Nur was mit Skalierung!“ oder „Brick & Mortar ist igitt!“. Wenn das natürliche Wachstum im Kerngeschäftsfeld abnimmt, kaufen Unternehmen schon immer Umsatz dazu und suchen neue Wege. Trotzdem: Im E‑com sollte man solche Ansätze nicht überbewerten, den Digitalen liegt das Testen und Konsolidieren im Blut. Auch der Amazon-Marketplace durchlief sechs Jahre Erfolglosigkeit, bis er abhob.
Konsolidierungsbedarf: Das ist mal sicher, und Stefan Wenzel hat schon früh drauf hingewiesen. Bei zurzeit mehr als 400 Marktplätzen, monatlich steigend, da kommt noch was ins Rutschen. Ob am Ende nur eine Handvoll Spieler übrigbleibt? Denkbar. Spätestens wenn der E‑com-Hype und die Quellen des billigen Kapitals versiegen, wird fusioniert und übernommen werden.
Geringe Marge: Vergleicht man die GuV von Warenhäusern und Online-Multibrand-Anbietern, dann ist der Mangel an Rohertrag frappierend. Das ist (wie in den Anfängen des Warenhauses) kein Problem, solange man skalierend wächst. Wachstum über Marktplatz ist dann ein süßes Gift, man tauscht wenig erfolgreichen Eigenhandel, und lässt Lieferanten machen. Ist halt gut für die GuV. Ein Blick in die Zalando-Geschäftsbericht zeigt: Mit dem Eigengeschäft erzielt man 6–8% EBIT, mit dem Marktplatz bis zu 25%.
Wohin das in einem zunehmend digital dominierten Umfeld führt ist offen. Aber ist es eine Schwäche in einer volatilen Zeit? Hat es dem Buchhändler Jeff Bezos von 1995 geschadet, dass er 2020 mit Amazon Marktplatz ist und mit Rechenzentren, Werbung und Logistikdienstleistungen Geld verdient?
Marktplätze sind heute so systemrelevant wie Warenhäuser im letzten Jahrhundert: Man mag sie nicht, aber solange sie die 1a Lage auf den Mobilgeräten besetzen, geht es nicht ohne sie.
Wie soll sich die Industrie auf diese Entwicklung einstellen?
Wir werden erst in ein paar Jahren wissen, wie die Handelswelt nach der Covid-Krise aussieht. Aber in Sachen Marktplatz braucht man sich keinen Illusionen hinzugeben: Es wird weiter investiert, probiert und skaliert. Die Kriegskassen sind voll, wir sind höchstens am Beginn einer abflachenden Wachstumskurve, die unweigerlich in Konsolidierung und Marktmacht endet. Wir werden einen Online-Markt erleben, der sich spezialisiert, mit gut kuratierten Pureplayern, die deutlich über 45% Rohertrag verdienen, siehe Revolve. Insofern ist es besser, man lernt früh auch diese Vertriebsweg zu managen. Marktplätze sind auch ohne Covid so systemrelevant wie Warenhäuser im letzten Jahrhundert: Man mag sie nicht, aber solange sie Top Convenience sind und die 1 a Lage auf den Mobilgeräten besetzen, geht es nicht ohne sie.
Die Zukunft der Industrie ist Smart Multichannel – vorrangig Wholesale, im rechten Maß Shop-in-Shop und gelegentlich Concession/Marktplatz, stationär als auch online. Dazu Social Commerce in eigener App, zusammen mit eigenen Stores. Ist das gut ausgebaut, dann ist ein gesunder Anteil Marktplatz ideal, um neue Kunden an sich heranzuführen. So ausgespielt schlägt diese Vertriebsstrategie jeden Online Pureplayer, qualitativ in der Kundenwahrnehmung und ganz sicher im Rohertrag.
Guido Schild ist in der Branche als Berater von Brands und Retailern groß geworden, Multichannel, Multibrand, Multinational. Früher im Turnaround Schleudergang, heute Coach an der Seitenlinie, aber stets dem Blick auf das strategische Ganze. Von seiner Arbeit und der Branche schreibt er regelmäßig in Brand Growth Inspiration