Bald ist es wieder so weit. Kaum ist die virtuelle Tinte unter dem Budget getrocknet, sitzen alle wieder vor den Ziel-Vereinbarungen für das neue Geschäftsjahr. Parallel zur Abrechnung der alten Ziele, der Koordination der beeindruckenden Gesprächs- und Daten-Kaskaden. Darin enthalten: krude Tools, unzählige manuelle Listen und Tabellen, Termine ohne Ende, Serienbriefe und der Ausnahmezustand in der Lohnbuchhaltung als großes Finale. Ein wahnsinniger Aufwand, der gefühlt die komplette Firma mindestens vier Wochen jedes Jahr lähmt und an der Gemütslage großer Teile der Belegschaft sichtlich nagt.
Die Kosten für die Veranstaltung? Misst niemand, Sache der Geschäftsführung. Die Qualität der vereinbarten Ziele? Misst niemand, stand im Memo, Sache der Führungskraft. Die Logik, Qualität und Vergleichbarkeit des Anspruchsniveaus der Ziele und der Bewertung insgesamt? Misst niemand, Sache der Führungskräfte der Führungskräfte.
Und HR? Die finden ihr Zielsystem dufte, verweisen bei allem Inhaltlichen auf die Verantwortung der Führungskräfte, sind Zeremonienmeister und kommunizieren als solcher über Monate und über alle zur Verfügung stehenden Kanäle Deadlines und Grundsätzliches zum Thema.
Infrage gestellt wird das alles maximal hinter verschlossenen Türen. Wir sind ja eine People-Company und Ziele und Prämien motivieren unsere People schließlich, oder?
Dazu haben vor wenigen Wochen die Universität Hamburg und die BI Norwegian Business School Oslo die Ergebnisse ihrer neusten Studie veröffentlicht. Darin die klare Erkenntnis, dass nicht Bonus-Systeme, sondern Verbundenheit, Autonomie und Kompetenzerleben Menschen motivieren. Und mehr noch: Die Studie belegt, dass Bonus-Systeme – insbesondere bei Männern – sogar aggressives Verhalten hervorrufen. Es wird für sich selbst und seine Zielerreichung optimiert und im Zweifel zum Nachteil des Teams getrickst.
Aufgabe von HR ist es, mit der Geschäftsführung Arbeitsmodelle und ‑Methoden als Teil eines effektiven „Betriebssystems“ für die Organisation zu entwickeln.
Da reiben sich die Verfechter von Anreizsystemen verwundert die Augen. Eine bahnbrechende, neue Erkenntnis ist das indes nicht. Schon vor mehr als zehn Jahren wurde bereits die fehlende Wirksamkeit von Leistungsanreizen auf Motivation bei Wissensarbeit als Stand der Forschung zusammengefasst. Autonomie, Sinnhaftigkeit und das Gefühl, Dinge zu beherrschen motivieren Menschen. Incentives für bestimmte Ziele, Prämien für Einzelergebnisse nicht, sind sogar kontraproduktiv.
Wir haben also kein Erkenntnis‑, sondern ein Handlungsdefizit. Für Personaler ist das eine Chance, aus der administrativen Rolle als Zeremonienmeister in eine gestaltende als Partner der Unternehmensführung zu wechseln. Kultur- und Design Thinking-Workshops in allen Ehren – das Potenzial einer HR-Funktion liegt darin, mit der Geschäftsführung effektive Arbeitsmodelle und ‑Methoden als Teil eines effektiven „Betriebssystems“ für die Organisation zu entwickeln.
Never waste a crisis – jetzt ist ein guter Zeitpunkt, auch alte Methoden-Zöpfe abzuschneiden und neue Wege zu gehen. Nicht nur, weil es viel Aufwand spart und Zeit für wichtige Dinge frei macht, sondern weil es Dysfunktionalität reduziert. Keine unwesentlichen Beiträge, nicht nur in der Krise.
Psychologische Sicherheit, faires Gehalt, gute Arbeitsbedingungen, Arbeitsinhalte und Arbeitsmodelle sowie eine Beteiligung am Unternehmenserfolg sind stattdessen die Themen auf dem Weg zu einer gesunden, leistungsfähigen Organisation.
Stefan Wenzel ist seit mehr als 20 Jahren im Digitalen Handel und einer der profiliertesten Köpfe der Branche. Seine Vita beinhaltet unter anderem Stationen als Geschäftsführer für Unternehmen wie Ebay, brand4friends, Otto, Mexx und Tom Tailor Digital. Stefan Wenzel unterstützt Firmen, Gründer und Geschäftsführer als digitaler Beirat, ist regelmäßiger Sprecher auf Fachkonferenzen, Interview- und Podcast-Gast. www.stefanwenzel.com