Die Anzahl an B2C-Marktplätzen ist in den letzten zwei Jahren in der DACH-Region um 40% auf mehr als 200 gestiegen. Wer nicht auf Marktplätzen verkauft, ist meistens selbst einer. Bei acht der Top zehn deutschen Online-Händlern ist das so, aber auch Luxus-Einzelhändler und neuerdings sogar Hersteller steigen ins Geschäft als Betreiber und den Wettbewerb um Kunden und Verkäufer ein.
Marktplätze sind die klaren Gewinner der Digitalisierung. Sie machen mehr als 50% des deutschen E‑Commerce aus und führen die Wachstums-Charts an. Allein im Jahr 2021 lagen Marktplätze beim Wachstum um Faktor 2 vor dem klassischen Online-Handel. Investoren lieben das Modell, wo sonst lässt sich ohne eigene Bestände und Läger ein veritables Handelsgeschäft aufbauen? Nicht nur lässt sich der Kundenzugang auskömmlich vermieten, auch die großen Kostenblöcke in der GuV, wie Lager, Fulfillment oder Werbung lassen sich durch Dritte gegenfinanzieren. Amazon legt auch hier vor und hat letztes Jahr mehr Geld von seinen Marktplatz-Verkäufern für Werbung auf der Plattform bekommen als er für sein komplettes eigenes Marketing ausgeben musste.
Das ist zu schön, um wahr zu sein, stimmt aber. Zumindest für den globalen Primus und mit viel Abstand für Teile der zweiten Liga dahinter. Warum Größe so wichtig ist? Weil Marktplätze ein ‚Winner-takes-most‘-Modell sind, je Kategorie zieht eine kleine Hand voll Anbieter den Großteil des Umsatzes auf sich. Der Grenznutzen für die User sinkt dramatisch mit jedem weiteren Marktplatz für dieselben austauschbaren Marken und Produkte, die Grenzkosten für die Skalierung steigen damit für jeden weiteren Marktplatz-Betreiber exponentiell.
Eine hohe Verfügbarkeit von Nachfrage und Angebot ist aber von vitaler Wichtigkeit für einen Marktplatz. Nur dadurch entstehen die berühmten Netzwerkeffekte, bei denen der Nutzen eines Services durch die Anzahl der Nutzer steigt. Ein klassisches Henne-Ei-Problem: Ohne Verkäufer und damit Angebot keine Käufer, ohne Traffic und Käufer keine Verkäufer, und damit kein Angebot. Und genau deshalb ist Marktplatz die Königsdisziplin im E‑Commerce.
Die Einführung eines Marktplatzes sollte immer nur Mittel zum Zweck sein, nie Zweck selbst. Und sie sollte aus einer Stärke heraus erfolgen. Systeme im Abwärtssog werden damit schwerlich gedreht.
Ein breites Angebot ist das eine. Was bei Marktplatz-Strategien meist fehlt, sind Ansätze für neue oder verbesserte Kundenpropositionen unter Nutzung des Marktplatz-Modells und jenseits eines größtmöglichen Sortiments. Im Modell allein liegt für Kunden kein Mehrwert. Was aber kann dieser zusätzliche Nutzen sein? Ist es nur die größtmögliche Auswahl für endloses Suchen und Filtern oder gibt es eine Kurationsleistung? Sind es dieselben Marken und Produkte, die auch auf allen anderen Marktplätzen zu finden sind oder gibt es etwas Besonderes? Ist es der beste Preis, weil Verkäufer auf dem Marktplatz im Wettbewerb zueinander stehen oder gibt es diesen Wettbewerb auf Artikel-Ebene gar nicht erst? Entstehen neue Services, die jenseits der drei oder vier Transaktionen pro Jahr zu Interaktion und Aktivität motivieren? Oder sind vielleicht die Services für die Verkäufer besser als auf anderen Plattformen? Wie effizient ist das Onboarding? Welche Daten und Analysemöglichkeiten werden geboten? Wie transparent ist die Performance des Marketings und wie gut sind die Optimierungsmöglichkeiten für Wirtschaftlichkeit auf Transaktionsebene?
Die Einführung eines Marktplatzes sollte immer nur Mittel zum Zweck sein, nie Zweck selbst. Und sie sollte aus einer Stärke heraus erfolgen. Systeme im Abwärtssog werden damit schwerlich gedreht. Mit Käufern auf der einen und Verkäufern auf der anderen Seite bedient ein Marktplatz zwei Zielgruppen, um die es einen intensiven Verdrängungswettbewerb im Markt gibt. Während sich der/die CFO an der betriebswirtschaftlichen Attraktivität des Marktplatz-Modells als solches erfreuen darf, ist es die Aufgabe des/der CEO, wertstiftende und differenzierende Angebote für beide Zielgruppen zu entwickeln.
Aus der Verkäufer-Sicht liegen die Herausforderungen woanders. Für Verkäufer sind Marktplätze Orte, an denen man Umsätze und Deckungsbeiträge gegen Provision generieren kann. Da Verkäufer auf einer Plattform keine Kundendaten für eigenes Marketing erhalten, zählt die jeweilige Transaktion für die Wirtschaftlichkeit. Die Bierdeckel-Rechnung für diejenigen, die auf Marktplätzen positive Deckungsbeiträge erzielen möchten, ist simpel. Warenkörbe auf Marktplätzen beinhalten in der Regel nur einen Artikel je Verkäufer. Aus der Brutto-Marge dieses einen Artikels müssen mindestens die Fulfillmentkosten inklusive Retouren sowie 15 bis 25% Kosten vom Umsatz für Provision und Marketing gedeckt werden. Daraus ergibt sich je nach Brutto-Marge der Mindest-VK und die maximale Retourenquote für die Sortimentierung. Aus dieser kommerziellen Physik ergibt sich auch, dass Marktplätze vor allem für Hersteller mit voller Brutto-Marge kommerziell interessant sind und sich Händler auf Marktplätzen tendenziell schwertun. Sie nutzen die Plattformen eher für andere Anwendungsfälle wie zum Beispiel als Restposten-Kanal.
90% aller Verkäufer in Deutschland sind auf Amazon und Ebay, dort sind 90% des Marktplatz-Umsatzes. Jeder weitere Marktplatz muss um neue Partner kämpfen.
Marktplätze setzen beim Verkäufer Ressourcen, Know-How und Geduld voraus. Die Anbindung ist meistens komplizierter als versprochen, der Betrieb oft manueller als sinnvoll, die Optimierung gerne weniger ausgereift als gedacht. Da Ressourcen, Know-how und Geduld limitiert sind, ist es die Anzahl der Marktplätze für den einzelnen Verkäufer auch. Man sucht sich den besten ‚bang for the buck‘.
So sind 90% aller Verkäufer in Deutschland auf Amazon und Ebay, dort sind 90% des Marktplatz-Umsatzes. Jede weitere Plattform muss um die verbleibenden Ressourcen, um Know-how und Geduld kämpfen. Entscheidungskriterien sind Volumen, Relevanz für das eigene Geschäft und Verträglichkeit mit der eigenen Marke. Welcher Marktplatz am besten passt, hängt vom Verkäufer ab. Da aber jeder Marktplatz anders funktioniert und individuell optimiert werden muss, sei vor Quantität gewarnt. In der Regel wird es wirtschaftlich erfolgreicher sein, wenige, relevante Marktplätze richtig zu steuern als viele nur mittelmäßig.
Fazit: Wer Marktplatz sein möchte, braucht ein differenzierendes Leistungsversprechen für Käufer und Verkäufer sowie Liquidität auf beiden Seiten der Marktplatz-Gleichung – das ist wenigen Großen vorenthalten oder denen mit entsprechenden Finanzmitteln. In der Differenzierung und Spezialisierung liegen Chancen (das gilt aber auch immer noch genauso jenseits des Marktplatz-Modells). Wer erfolgreicher Verkäufer sein möchte, braucht ebenso ein differenzierendes Leistungsversprechen sowie eine fokussierte Marktplatz-Strategie – von der Auswahl und Anzahl an Plattformen über Daten, Prozesse und Infrastruktur bis Analyse und Steuerung. Wer im eigenen Kundenstamm ein strategisches Asset sieht, der braucht als Verkäufer eine komplementäre D2C-Strategie. Ein differenzierendes Leistungsversprechen macht auch eine D2C-Mission erfolgswahrscheinlicher, das also lohnt sich so oder so.
Stefan Wenzel ist seit mehr als 20 Jahren im Digitalen Handel und einer der profiliertesten Köpfe der Branche. Seine Vita beinhaltet unter anderem Stationen als Geschäftsführer für Unternehmen wie Ebay, brand4friends, Otto, Mexx und Tom Tailor Digital. Stefan Wenzel unterstützt Firmen, Gründer und Geschäftsführer als digitaler Beirat, ist regelmäßiger Sprecher auf Fachkonferenzen, Interview- und Podcast-Gast. www.stefanwenzel.com
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