Dieser Tage war bei den Netzpiloten ein interessantes Interview mit den Navabi-Gründern zu lesen. Navabi, das ist jener Onlineshop für Große Größen, der beweist, dass Start-ups auch jenseits von Berlin und Rocket gedeihen, ja sogar in Aachen. In dem Gespräch mit Bahman Nedaei und Zahir Dehnadi geht es um das Verhältnis von Mode und Technologie, und die beiden positionieren sich dabei eindeutig: "Wir sind in erster Linie ein Modeunternehmen." Das freilich intensiv Daten nutze, um Produkte und Website immer weiter zu verbessern. Wer aber nur auf die Daten schaue, kreiiere nichts Neues und vor allem nicht wirklich gute Mode. "Dafür bedarf es kreativer Ausbrüche und Fehlschläge."
Sollte Jeff Bezos das gelesen haben, wovon nicht auszugehen ist, ihm stünden die Haare zu Berge, die er nicht hat. Der Ansatz von Amazon ist nämlich ein völlig anderer. Der Online-Gigant geht das Modebusiness an wie alle Categories: mit analytischer, rein datenbasierter Effizienz. Und da mehr Menschen Kleidung tragen als Bücher lesen, hat dieses Geschäft zurzeit eine hohe Priorität. Amazons Ambitionen werden durch die Eröffnung der riesigen Fotostudios neulich in London ebenso untermauert wie durch die Anzeigen in der Vogue. Über Interviews in der TW und Auftritten bei Kongressen dient Modechef Sergio Bucher seinen Marktplatz der Industrie an. Und für viele Brands ist das ja auch eine gangbare Alternative zum wegbrechenden Multilabel-Fachhandel wie zum teuren eigenen Onlineshop.
Genaues weiß man nicht, und der fehlende Fashion-Appeal von amazon.de täuscht mit Sicherheit: Vermutlich ist Amazon heute schon einer der größten Modedistributeure der Republik. "Fashion gehört zu den am schnellsten wachsenden Warengruppen bei Amazon", so Modechef Bucher neulich in Berlin. Im Schuhhandel ist man nach eigenen Angaben die Nummer 2 nach Deichmann und vor Zalando. Der Emporkömmling aus Berlin positioniert sich bewusst modisch, vermutlich nicht zuletzt, um sich von der Verkaufsmaschine aus Seattle abzugrenzen. Man darf davon ausgehen, dass die Entscheider bei Zalando nicht weniger datenverliebt agieren.
Eine wesentliche Funktion von Einzelhandel ist die Selektion. Das spielt bei Amazon keine Rolle. Dort geht es schlicht darum, das gesamte Angebot der Welt verfügbar zu machen. Die Auswahl bleibt den Kunden überlassen. Kaufanregungen generiert die "Findemaschine" (Deutschland-Chef Ralf Kleber) automatisch auf Basis des bisherigen Kaufverhalten. An dieser extremen Kundenzentrierung richtet sich die gesamte Organisation aus. Ein Amazon-Einkäufer muss in erster Linie Analyst sein. Warenkenntnis ist nicht entscheidend, für Trendgespür, Geschmack und Stil kein Platz. Es macht wenig Sinn, mit Amazon-Einkäufern über den Silhouettenwandel und die Farben der kommenden Saison zu diskutieren. Dafür bekommen die Vertriebsmitarbeiter bei der Order haarklein die Performance ihrer Produkte vorgerechnet. Wenigstens die Volumina machen Spaß.
Es ist der alte Traum der Kaufleute, den Jeff Bezos sich erfüllen möchte: den Risikofaktor Mode im Modegeschäft zu minimieren. Daran haben sich Generationen von Einzelhändlern abgearbeitet, und die Zeiten, wo Boutiquenbesitzer planlos über die Igedo trödelten, sind gottlob lange vorbei. All die perfekten Warenwirtschaftssysteme, ausgeklügelten Limitplanungen und vermeintlich sicheren Prognosetools haben indes nicht verhindern können, dass die Altwarenbestände regelmäßig zu groß und die Abschriften über die Jahre gestiegen sind.
Mit der Digitalisierung bekommt der Handel nun völlig neue Instrumente an die Hand, und das betrifft beileibe nicht nur die Pure Player, sondern auch den stationären Retail: RFID-Tags, Beacons, Apps, Omnichannel-CRM-Lösungen, wie sie H&M gerade einführt, und so weiter. Weil es diese Technologien gibt, werden sie genutzt werden.
Die Herausforderung bleibt freilich, die riesigen Datenmengen, die der Handel damit generiert, für Entscheidungen nutzbar zu machen. Das ist das Versprechen der Big Data-Propheten. Die große Frage ist: Kann Big Data das Bauchgefühl ersetzen, das einen guten Modehändler seit jeher auszeichnet? Werden Einkäufer zum bloßen Beschaffer?
Vermutlich wird es so kommen, dass der Spielraum für Bauchentscheidungen kleiner wird. Der modische Meinungsbildungsprozess verlagert sich durch social media immer mehr zu den Konsumenten hin und wird messbarer. Auch beschleunigt sich die Verbreitung von Trends, und ihre Halbwertszeit verkürzt sich.
Man wird die Trüffelschweine aber ebenso weiter brauchen wie die kreativen Designer, die veränderte Stil- und Geschmacksvorstellungen mit feinen Antennen registrieren und prägen. Mode beginnt immer im Kleinen, in der Nische, bei Wenigen. Trends sind erst mal Small Data. Wenn sie Big Data werden, sind sie Mainstream. Auf diesem Spielfeld können Bekleidungshändler gute Geschäfte machen. Amazon wird dabei ganz vorne mitspielen. Wirkliche Modehändler und Modemacher sollten dann aber besser schon wieder einen Schritt weiter sein.
"Menschen werden immer die Impulsgeber bleiben", sagt Online-Händler Bahman Nedaei. "Hätte Coco Chanel nur auf Zahlen geschaut, würden sich Frauen heute immer noch in enge Korsetts zwängen statt bequeme Hosen zu tragen, und Baumwolljersey hätte sich vielleicht nie außerhalb von Unterwäsche durchgesetzt"
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Und sonst? Gibt es Neues aus der Medienwelt:
…So erscheint der US-Playboy nicht mehr hüllenlos. Die Covergirls sollen sich ab sofort was überwerfen. Mit Klamotten hofft man am Kiosk besser abzuschneiden. Ein ermutigendes Signal für alle Bekleidungsanbieter.
…So bringt Men's Health jetzt ein Magazin für junge Väter auf den Markt: "Dad". Darauf haben wir Väter natürlich alle gewartet. Nach der Schwangerschaft haben Männer bekanntlich besonders Probleme, ihr früheres Gewicht wiederzuerlangen.
…So findet am kommenden Sonntag in Düsseldorf die 2. Windelweltmeisterschaft statt, im Rahmen des von Styleranking ausgerichteten ElternBloggerCafes. Erster Windelweltmeister war übrigens ein Mann. Mark Bourichter verrichtete das Werk in 26 Sekunden. Für den Titel von "Dad" hat es trotzdem nicht gereicht.
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