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Haarte Zeiten

Jürgen Müller

Montag 1. März. Die Ersten haben um 0 Uhr aufgemacht. Mancherorts wurden die Termine gar versteigert. In Duisburg zahlte eine Kundin 500 Euro für ihren Haarschnitt. Was der Friseurin lokale Publicity, der Kundin (eine SPD-Landtagsabgeordnete) Sympathien und der Kindernothilfe eine großzügig auf 1500 Euro aufgerundete Spende einbrachte. Die Salons dürfen seit heute wieder öffnen. Laut Medienberichten wurden darüber „Freudensträhnen“ vergossen, die SZ freute sich über das „Kammback“, endlich Schluss mit der „Pandematte“. Und das alles an einem Montag, dem Wochentag, wo Friseure für gewöhnlich ausschlafen. Es sind eben haarte Zeiten.

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Dienstag, 2. März. Im Vorfeld des Bund-Länder-Showdowns fordern Verbände, Initiativen wie „Das Leben gehört ins Zentrum“ und führende Protagonisten der Branche vehement die Wende in der Corona-Politik. „Der Handel muss am 8. März wieder öffnen“, so Heinrich Deichmann im Handelsblatt. Die Lage sei nicht mehr erträglich. 50.000 Händler und 250.000 Arbeitsplätze seien in Gefahr. „Das kann keinen Politiker kalt lassen.“ S.Oliver-CEO Claus-Dietrich Lahrs droht im Interview mit der Augsburger Allgemeinen mit einer Verfassungsbeschwerde. Und New Yorker-Inhaber Friedrich Knapp teilt in der TW hart aus: Der Einzelhandel dürfe nicht „Bauernopfer für eine Politik sein, die es vermasselt, Impfstoffe zu besorgen, Testkonzepte zu entwickeln oder die Ältesten der Bevölkerung zu schützen“. Click & Meet sei Blödsinn, der nichts bringe, und der Online-Vertrieb für die meisten Unternehmen so oder so keine tragfähige Alternative. „So doof könnte ich gar nicht sein.“ Deshalb müssten die Einzelhändler und ihre Beschäftigten auf die Straße gehen. „Eine Woche lang alle Städte blockieren, damit jeder versteht, was hier gerade passiert, sonst wird das nichts. Wir müssen demonstrieren, das ist die einzige Sprache, die die Politik versteht. Die Bauern fahren ja auch mit ihren Treckern nach Berlin, wenn ihnen etwas nicht passt.“

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Mittwoch, 3. März. Warten auf Merkel und die MPs. Eigentlich ist schon vor der Bund-Länder-Konferenz klar, dass es angesichts der anlaufenden dritten Welle erstmal nichts wird mit großen Lockerungen. Gestern wurde ein entsprechendes Positionspapier vom Kanzleramt lanciert. Aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Der Verzweiflungspegel steigt und damit der Verdruss über das offensichtliche Missmanagement. Das Hin und Her um die 750 Millionen-Grenze für Unterstützungsansprüche, die zuerst gekippt, gestern wieder eingeführt und heute schließlich wieder aufgehoben wird, verstärkt den Eindruck von Uneinigkeit und Planlosigkeit.

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Ein wenig Zerstreuung bietet die Nachricht von Bitkom. Der Digitalverband hat in einer Umfrage festgestellt, dass es den allermeisten Menschen wichtig sei, bei Videocalls auch optisch einen guten Eindruck zu machen. Zwei Drittel wollen beim Zoomen möglichst gut aussehen, Frauen (69 Prozent) mehr als Männer (60 Prozent). Ist das jetzt eine gute Nachricht? Oder ist es nicht vielmehr ein Armutszeugnis, dass 31 bzw. 40 Prozent die Optik egal ist?

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Donnerstag, 4. März. Es ist Wahljahr, da zählt Volkes Stimme ganz besonders. Deswegen sprechen Kanzlerin und Ministerpräsidenten nach ihrem 9 Stunden-Meeting von Öffnungsperspektiven. De facto verfügen sie aber die Fortsetzung des Shutdowns, jedenfalls für den ganz überwiegenden Teil des Einzelhandels. Christian Lindner nennt die Beschlüsse vom Mittwochabend deshalb zurecht eine Fata Morgana: „Die Menschen können Öffnungen sehen, sie in Wahrheit aber nicht erreichen.“ Und während in Deutschland über Inzidenzwerte und Teststrategien diskutiert wird, sind andere Länder mit dem Impfen fast durch.

Man darf der Regierung nicht die Schuld an der Pandemie geben. Aber man kann ihr und den Behörden sehr wohl Versagen bei der Bewältigung dieses Ausnahmezustandes vorwerfen. Mit jedem Monat tritt deutlicher zutage wie träge, konfus und einfallslos das deutsche Krisenmanagement ist. Statt Pragmatismus herrscht die Bürokratie. Und wie so oft versuchen wir auch diese Krise mit Steuergeld zu lösen. Bei der Bundestagswahl wird nicht zuletzt darüber verhandelt werden, wer das bezahlen soll.

Dabei gäbe es für den Einzelhandel sehr wohl einen Mittelweg zwischen uneingeschränktem Öffnen und totalem Schließen. Es wurden mehrfach vernünftige Vorschläge dazu gemacht. Auch ist nicht nachzuvollziehen, weshalb man einzelne Branchen zusperrt  und anderen die Öffnung erlaubt, statt sich kategorieübergreifend an lokalen Inzidenzen auszurichten. Lieber kauft der Staat den Läden nun über die Abschreibungsregelungen bilanziell die Frühjahrsware ab. Gottseidank, denn sonst würde der deutsche Modehandel komplett kollabieren. Viel lieber würden die Kaufleute ihre Ware freilich an die Kunden verkaufen können.