Das Thema Nachhaltigkeit treibt alle Modeunternehmen um. Doch Sustainable Fashion betrifft C02-Ausstoß, nachhaltige Materialien, Produktion, Lieferkette und noch vieles mehr. Etablierte Anbieter mit eingespielter Supply Chain stellt das vor riesige Herausforderungen. Wie geht Ihr bei Gerry Weber mit dem Thema um?
Das ist tatsächlich ein unglaublich vielschichtiges Thema. Auch ich habe in meiner Rolle bei Gerry Weber Respekt davor, etwas anzukündigen, was wir als Unternehmen dann vielleicht nicht halten können. Bei aller Vorsicht erachte ich es für richtig und wichtig, die Dinge zu hinterfragen und zu verändern – und vor allen Dingen: anzufangen. Wir haben diesen riesigen Berg für uns in verschiedene Hügel aufgeteilt und arbeiten uns jetzt Schritt für Schritt heran.
Das heißt?
Wir haben im ersten Schritt einen Nachhaltigkeitsbericht veröffentlicht, der mir aber nicht konkret genug war. Deshalb habe ich mich für einen Fortschrittsbericht eingesetzt. Hier werden unsere Ziele klar und unsere Fortschritte transparent und verfolgbar dargestellt. Wir arbeiten aktuell an verschiedenen Feldern und möchten zielorientiert und nachhaltig effektiv vorgehen. Die neue Darstellungsweise nimmt den Druck von allen Beteiligten, ein Ergebnis zu erzwingen, das vielleicht noch nicht reif ist.
Kann man als Modeanbieter überhaupt komplett nachhaltig werden?
Das ist der ausdrückliche Wunsch unserer Shareholder. Alles rund um Gender, Diversity und Nachhaltigkeit ist für Investoren extrem wichtig geworden. Natürlich müssen wir uns alle erst einmal die Frage beantworten, was ‚komplett nachhaltig‘ überhaupt bedeutet. Wir sagen, wir sind nachhaltig, wenn wir komplett C0²-neutral sind. Bis 2030 schaffen wir es, in unserem Headquarter in Halle CO²-neutral zu sein. Danach kann man die die deutschen und ausländischen Gesellschaften angehen. Dass unsere gesamte Lieferkette komplett CO²-neutral arbeitet, das halten wir bis 2040 für realisierbar. Und das ist zeitlich schon eine Riesenchallenge.
Nachhaltigkeit betrifft aber auch die Stoffe.
Damit hat Gerry Weber schon vor über zehn Jahren begonnen. Wir arbeiten mit dem BSCI-Amfori-Verhaltenskodex, dem GOTS-Zertifikat – und seit vier Jahren auch mit dem Ökotex 100-Standard. In unsere Frühjahrskollektion entsprechen bereits 52 Prozent unserer Stoffe diesen Standards.
Und wie sieht die Planung bezüglich nachhaltiger Materialien für die Herbstkollektion 2021 aus?
Da fallen wir wieder zurück aufgrund der Materialien, die im Winter zum Einsatz kommen. Bei Denim sind wir schon gut aufgestellt, da machen wir mittlerweile 60 Prozent mit Lyocell/Tencel. Aber gerade bei Wolle, die im Winter ja stark zum Einsatz kommt, müssen wir erst nochmal unsere Hausaufgaben machen. Wir sind an dem Thema recycelter Wolle dran, für Cashmere möchten wir ‚The Good Cashmere Standard‘ der Michael Otto Stiftung beitreten, auch wenn bei uns der Cashmere-Anteil nicht hoch ist. Bei Outdoor sind wir noch auf der Suche nach recyceltem Polyester.
Welche Rolle spielt Recycling?
Wir haben die ersten Recyclingboxen in 30 unserer Stores aufgestellt und freuen uns, wie gut das von unseren Kundinnen angenommen wird. Wir stellen allerdings auch fest, dass viele Materialien nicht wiederverwertet werden können. Aus vielen Mischgeweben lässt sich nur noch Granulat herstellen, woraus man allerdings Kleiderbügel und sogar Möbel machen kann. In unserem Store in Krefeld setzen wir jetzt zum ersten Mal Kleiderbügel aus Granulat ein, weitere Stores werden zeitnah folgen.
"In der Kreislaufwirtschaft liegt für mich ganz klar die Zukunft. Wenn die Designer*innen ein Teil entwerfen, muss klar sein, welche nachhaltig produzierten Materialien dafür wiederverwendet werden können."
Sind Polyester und synthetische Mischungen nicht umweltschädlicher als natürliche Materialien?
Da kommen Nord- und Südpol zusammen. Bei Organic Cotton kann man simpel ausgedrückt sagen: besser als nichts – wenn denn die Baumwolle nicht Gen-manipuliert ist. So viel wie in den Läden davon angeboten wird, so viel Organic Cotton wird gar nicht angebaut. Hinzu kommt, dass Organic Cotton zwar weniger Wasser als herkömmlich hergestellte Baumwolle verbraucht, aber immer noch zu viel. Vor diesem Hintergrund lohnt sich durchaus die Überlegung, ob recycelbares Polyester mittelfristig vielleicht doch besser ist.
Wäre es nicht wünschenswert, dass das Modebusiness komplett zu einer Kreislaufwirtschaft wird?
Auch für mich liegt hier ganz klar die Zukunft. Wenn die Designer*innen anfangen, ein Teil zu entwerfen, muss klar sein, welche nachhaltig produzierten Materialien dafür wiederverwendet werden können. Wir arbeiten aus diesem Grund zum Beispiel mit der Leibniz Universität in Hannover an einem Forschungsprojekt, das untersucht, welche Materialien recycelbar sind. Mit der AMD in Düsseldorf arbeiten wir an einem anderen Projekt, in dessen Rahmen die Student*innen alte Ware neu aufarbeiten. Durch die Pandemie haben wir ja alle viel Ware am Lager, aus der man etwas schönes, sinnvolles Neues machen kann. Plüschtiere zum Beispiel, Patch-Wolldecken, pre-owned Second Hand, da gibt es ja bereits Marken, die das sehr erfolgreich machen. Da muss man dann schauen, wie das die Kundinnen annehmen.
Ist es denn tatsächlich so, dass die Kundinnen durch Corona plötzlich ein nachhaltigeres Konsumverhalten entwickeln? Oder ist das mehr Wunsch als Realität?
Wir hatten kürzlich im Rahmen der Nachhaltigkeitswoche ein Online-Event mit 250 Kundinnen. Da konnte man schon sehen, dass die Frauen extrem interessiert daran waren. Aber wir werden sicher nicht zum Armed Angels im Classic Mainstream-Bereich werden. Die jüngere Generation ist bei dieser Thematik definitiv der Treiber. Man darf aber nicht unterschätzen, dass in vielen Familien ein verändertes Bewusstsein über die Töchter und Söhne entsteht und geschärft wird. Trotzdem muss man insgesamt noch viel Aufklärungsarbeit leisten. Doch bei aller Dringlichkeit dieses Themas müssen wir als Gerry Weber das Komfortbedürfnis unserer Kundinnen weiterhin abdecken. Eine Hose kann zu 96 Prozent aus Organic Cotton sein, aber die vier Prozent Elasthan brauchen wir eben auch, weil wir zumindest im Moment bei Passform und Bequemlichkeit an Elasthan noch nicht vorbeikommen. Da hoffe ich sehr auf das Projektergebnis der Leibniz Universität zum Thema der recycelten Materialien, denn im Moment müssen wir immer noch abwägen und mitunter auch Kompromisse eingehen.
Stimmst Du mir zu, dass Sustainability im breiten Markt nur dann funktioniert, wenn der modische Anspruch nicht darunter leidet?
Absolut. Ästhetik muss an erster Stelle stehen. Die meisten Menschen haben beim Thema Sustainability immer noch den Jutebeutel vor Augen oder ein unförmiges Teil, das kratzt. Hinzu kommt, dass die meisten Kund*innen auch nicht bereit sind, für ein nachhaltiges Teil mehr als für konventionelle Ware zu bezahlen. Da hat uns die Lebensmittelbranche etwas voraus.
Tatsächlich haben Öko-Materialien immer noch häufig eine andere Haptik und die Farben eine andere Brillanz. Wird nicht genau das von vielen Kund*innen als ökig abgestempelt?
Im Moment sicher ja, aber da vertraue ich in die Produktentwicklung und Forschung. Da hat sich schon vieles verändert, und es wird noch vieles passieren. Im Moment muss jedes Unternehmen abwägen, was zur eigenen Marke passt.
Kommen wir zu den Gütesiegeln und Zertifizierungen. Wie sollen sich die Kundinnen in diesem Dschungel zurechtfinden?
Das ist tatsächlich viel zu kompliziert. Wir haben uns aus diesem Grund dazu entschlossen, mit wenigen ausgewählten Siegeln zusammenzuarbeiten. Außerdem haben wir unsere Marke „I wear I care“ schützen lassen, damit die Kundin genau nachlesen kann, was an dem Produkt nachhaltig ist. Im Energiebereich sind wir ISO zertifiziert.
"Das Lieferkettengesetz ist für die Industrie eine echte Challenge. Aber auch wir bereiten uns darauf vor. Im operativen Handling werden Unternehmen vor Ort Instanzen zwischenschalten müssen, und das wird definitiv viel Geld kosten."
Wie stehst Du zum Lieferkettengesetz?
Das ist für die Industrie eine echte Challenge. Im Moment sind erst einmal Unternehmen ab 400 Millionen Euro Umsatz gefordert. Aber auch wir bereiten uns schon darauf vor. Dabei stoßen wir auf diverse Herausforderungen. Was passiert zum Beispiel, wenn sich eine Näherin in Bangladesch bei der Herstellung eines Gerry Weber-T-Shirts in den Finger sticht? Wie sollen wir das von Deutschland kontrollieren? Im operativen Handling werden Unternehmen vor Ort Instanzen zwischenschalten müssen, und das wird definitiv viel Geld kosten.
Was hältst Du davon, wenn Fast Fashion-Anbieter Zara oder H&M das Thema Sustainability offensiv propagieren?
Jeder, der mitmacht, ist ein Gewinn für die Ökobilanz unserer Branche. Wenn die Großen mitmachen, sorgt das für eine bessere Durchdringung im Markt. Und man muss sagen, dass die beiden genannten Unternehmen es auch nicht schlecht machen.
Wie ist Online Retailing in diesem Zusammenhang zu bewerten? Ist es sinnvoll, wenn wir jetzt Millionen von Päckchen in der Welt verschicken?
Wir müssen und werden uns sicher alle auch Gedanken um neue Verpackungen machen, damit dieser Wahnsinnsmüllberg sich deutlich verkleinert. Aber auch hier gibt es bereits Ansätze zu recycelbarer Verpackung, die nicht mehr aus Plastik besteht. Wir haben in unseren Gerry Weber-Geschäften in Aachen, Bonn und Köln jetzt mal den Test gestartet, innerhalb von zwei Stunden in der Stadt die Ware mit dem Fahrradkurier auszuliefern, was gut geklappt hat. Das sind alles kleine Pilotprojekte, um zu testen, was gut funktioniert und wie das angenommen wird.
"Nachhaltigkeit muss man sich als Unternehmen leisten können, sie muss wirtschaftlich noch Sinn machen. Das wird von vielen unterschätzt."
Was ist für Dich die größte Herausforderung bei der nachhaltigen Transformation?
Nachhaltigkeit muss man sich als Unternehmen leisten können, sie muss wirtschaftlich noch Sinn machen. Das wird von vielen unterschätzt.
Es heißt immer wieder gerne, dass wir vermehrt wieder in Deutschland oder zumindest in Europa produzieren müssten. Wie realistisch ist das?
Als Mainstream-Anbieter kann ich ganz klar sagen, dass diese Forderung unrealistisch ist. Ich finde es schwierig, Produktionsländer in Asien oder Fernost pauschal zu verurteilen. Wir zum Beispiel produzieren in Bangladesch, arbeiten dort aber ausschließlich mit BSCI-zertifizierten Betrieben zusammen. Wir alle dürfen unsere ethische und moralische Verpflichtung in diesen Ländern nicht außer Acht lassen. 80 Prozent der bangladesischen Bevölkerung hängt wirtschaftlich von der Textilproduktion ab. Wenn jetzt alle Modefirmen ihre Produktionen aus dem Land abziehen, wäre das für Bangladesch eine Katastrophe. Ich weiß nicht, wer das verantworten möchte. Verantwortung tragen heißt doch hier vielmehr, dass wir dafür sorgen müssen, dass die Rahmenbedingungen vor Ort immer noch besser werden. Es gibt in Bangladesch viele super aufgestellte Betriebe – neben einigen schwarzen Schafen. Die gibt es aber auch in Europa. Schau nach Italien rund um die Gegend von Prato, dort herrschen teilweise schlimmere Verhältnisse als in Bangladesch, die waren im BSCI gar nicht vorgesehen, auditiert zu werden.
Sind die Kundinnen denn bereit, für ein nachhaltiges Produkt mehr Geld auszugeben?
In unserem Marktsegment sind die Kundinnen durchaus preissensibel, und klar ist auch, dass gleiche Preise bei einem nachhaltigen Produkt im Moment nicht machbar sind. Kleinere Preisaufschläge wie bei einem GOTS-zertifizierten Baumwollshirt akzeptiert die Kundin, das hält sich dann preislich auch in Grenzen. Je mehr nachhaltige Materialien auf den Markt kommen, umso besser werden auch die Preise.
Wie sieht Deine persönliche Lernkurve bei dem Thema aus?
Du bist nie fertig und musst immer dranbleiben. Man muss sich permanent neu motivieren. Ich persönlich glaube, dass Kreislaufwirtschaft das beste System sein wird, Nachhaltigkeit in der Branche umzusetzen. In Portugal zum Beispiel gibt es schon jetzt innovative Fabriken, die alte T‑Shirts annehmen, komplett zerlegen und wieder neu zusammensetzen. Nur leider ist das alles noch sehr teuer.
Wie bereit ist unsere Branche, sich über grüne Lippenbekenntnisse hinaus wirklich ernsthaft mit Nachhaltigkeit auseinanderzusetzen?
Die ‚Fridays for Future‘-Bewegung hat einiges losgetreten, und auch Corona hat natürlich einiges verändert. Ich empfinde noch sehr viel Ambivalenz in unserer Branche, aber wir haben gar keine andere Wahl als weiterzumachen.