Galeria Karstadt Kaufhof, P&C Düsseldorf, Gerry Weber, Ahlers, Görtz, Hallhuber, Reno, Better Rich… Die deutsche Modebranche erlebt gerade eine beispiellose Welle von furchtbaren Insolvenzen. Menschen verlieren ihre Existenz, die Aufbauarbeit von Generationen wird zerstört, Unternehmen werden zerschlagen, und über Jahrzehnte errungenes Können und Wissen gehen verloren.
Es ist nur menschlich, dass man angesichts von so viel Unglück nach Erklärungen sucht, die einem ein bisschen Beruhigung und Trost spenden. So wird zum Beispiel immer wieder reflexartig unterstellt, die betroffenen Unternehmen seien durch ein falsches Sortiment in Schieflage geraten. Denn in dieser Annahme liegt für alle die Beruhigung, sich durch ein richtiges Sortiment in Sicherheit bringen zu können. Vor allem jedoch hat man sich allgemein auf das Narrativ geeinigt, die Schwierigkeiten seien darauf zurückzuführen, dass der Modekonsum durch den Ukrainekrieg und die Inflation gebremst werde. Besonders, wenn man selbst gerade in Schwierigkeiten ist, liegt darin der Trost, dass es im Moment für alle schwierig sei, in absehbarer Zeit aber auch wieder besser werde. Man glaubt an dieses Narrativ, weil man daran glauben will.
Wenn sich alle in dieser Branche gegenseitig bestätigen, was sie gerne hören wollen, dann ist das sicher sehr angenehm. Es ist aber auch sehr gefährlich, denn – wie in der Medizin – führen auch hier falsche Diagnosen zu falschen Therapien.
Tatsächlich haben die Deutschen in den letzten anderthalb Jahren trotz Ukraine-Krieg und trotz Inflation so viel Geld für Mode ausgegeben wie noch nie zuvor. Nach den uns bei DMI vorliegenden Zahlen haben die Schwierigkeiten weniger konjunkturelle als strukturelle Gründe.
Da ist zum einen die ungebremst fortschreitende Vertikalisierung. Allein im Zeitraum von 2000 bis 2015 hat sich der Marktanteil der rein Vertikalen am stationären Modehandel von einem Fünftel auf fast ein Drittel ausgeweitet. Der Marktanteil der kleinen Multimarkenhändler ist im gleichen Zeitraum von über einem Viertel auf weniger als acht Prozent zusammengeschrumpft. Und die großen Kaufhäuser betreiben auf ihren Flächen nur noch so wenig Multimarkenhandel wie nötig und vermieten so viel wie möglich an vertikale Shops. Diese Entwicklung geht sowohl stationär als auch online bis heute ungebremst weiter. Auch Zalando macht inzwischen bereits 40 Prozent seines Umsatzes nicht mehr als Multimarkenhändler, sondern als Plattform für vertikale Onlineshops im Onlineshop. Tendenz steigend.
Wir haben es mit einem erbarmungslosen Wirtschaftsdarwinismus zu tun, bei dem sich nicht zwangsläufig das beliebtere, sondern das rentablere Geschäftsmodell durchsetzt.
Wenn die Unabhängigen von den Vertikalen flächendeckend aus dem Markt verdrängt werden, dann liegt das schlicht daran, dass das vertikale Geschäftsmodell dem unabhängigen grundsätzlich wirtschaftlich überlegen ist. Wie damals in den 1970er Jahren, als die Tante-Emma-Läden von den Supermärkten verdrängt wurden, haben wir es hier mit einem erbarmungslosen Wirtschaftsdarwinismus zu tun, bei dem sich nicht zwangsläufig das beliebtere, sondern das rentablere Geschäftsmodell durchsetzt.
Der Vergleich mit den Entwicklungen im Lebensmittelhandel birgt für die noch verbliebenen Multimarken-Modehändler aber keineswegs nur Ausweglosigkeit, sondern auch einen möglichen Ausweg: An die Stelle der typischen Tante-Emma-Läden, die von allem ein bisschen anbieten, ist eine florierende Vielfalt an erfolgreichen Spezialitäten- und Delikatessläden getreten. In meiner Umgebung zum Beispiel gibt es einen türkischen Obst- und Gemüsehändler, eine Butter-Lindner-Filiale, ein Geschäft für griechische Spezialitäten, einen italienischen Feinkosthändler, ein Geschäft für spanische Schinken und Käse, eine Weinhandlung für Bio-Weine und so weiter. So wie bei dem Übergang von den Tante-Emma-Läden zu den eben beschriebenen Spezialitäten- und Delikatessengeschäften liegt auch für die noch verbliebenen unabhängigen Modehändler eine Chance in der Spezialisierung und in der Schärfung des eigenen Profils.
Für den stationären Handel insgesamt ist in den letzten Jahren der Online-Handel als eine zusätzliche Herausforderung dazu gekommen. Allein in den fünf Jahren von 2015 bis 2020 konnte der Online-Modehandel den stationären Modehändlern so viel Marktanteil abnehmen, dass deren Umsatz um ganze 13 Prozent eingebrochen ist. Und die Prognosen gehen dahin, dass sie bis übernächstes Jahr noch einmal zwölf Prozent ihres Umsatzes verloren haben werden.
Auch diese massive strukturelle Veränderung ist grundsätzlich bekannt. Entscheidend für das Verständnis der derzeitigen Krise sind jedoch die differenzierten Zahlen, die zeigen, dass diese Entwicklung nicht alle Segmente des Marktes gleichmäßig trifft. Derzeit hat sie nämlich ganz besonders plötzlich und ganz besonders heftig all diejenigen Unternehmen getroffen, deren Kernzielgruppe bereits etwas reiferen Alters ist. Und das sind in Deutschland besonders viele.
Online gilt: Je oller, je doller. Nicht die Digital-Natives dominieren den E‑Commerce, sondern die Boomer.
Die absolute Mehrheit der Deutschen (57%) ist über 40. Entsprechend ist auch die absolute Mehrheit des modischen Angebots in Deutschland auf diese zahlenstarke und zahlungskräftige Bevölkerungsgruppe ausgerichtet. Das gilt nicht nur für das Produkt selbst, sondern auch für den Vertriebskanal, den stationären Handel.
Die besonders stark ausgeprägte Generation der Babyboomer hatte bis zur Pandemie mit dem Kleidungskauf im Internet gefremdelt und sich lieber weiterhin in physischen Geschäften eingekleidet. Mit den Lockdowns kauften viele aus dieser Generation zum ersten Mal Kleidung im Netz und lernten, wie einfach und bequem das ist. Hatten sich die Online-Einkäufe 2019, kurz vor Ausbruch der Pandemie, noch relativ gleichmäßig auf die verschiedenen Altersgruppen verteilt, so zeigt sich seit 2020 ein komplett anderes Bild, das allen gängigen Erwartungen widerspricht. Online gilt: Je oller, je doller. Nicht die Digital-Natives dominieren den E‑Commerce, sondern die Boomer. Über die Hälfte (56%) aller Online-Käufe werden jetzt von Leuten gemacht, die über Fünfzig sind. Diese erdrutschhafte Entwicklung fand in nur einem Jahr statt. Viele Anbieter haben es nicht geschafft, ihrer Zielgruppe so schnell ins Internet zu folgen. Das muss nun schleunigst nachgeholt werden.
Ob die Anpassung an den Strukturwandel gelingt, wird sich zeigen. Ich wünsche es allen von Herzen. Die Voraussetzung ist, dass man die Realität anerkennt. Und sich nicht jedes Mal, wenn die Umsätze mal wieder rückläufig sind, aufs Neue gegenseitig einredet, dass das am Sortiment oder am Krieg oder am Wetter läge.
Carl Tillessen ist gemeinsam mit Gerd Müller-Thomkins Geschäftsführer des Deutschen Mode-Instituts. Sein Buch “Konsum” geht der Frage nach, wie, wo und vor allem warum wir kaufen. www.carltillessen.com