
Zum ersten Mal seit über 35 Jahren ist kein einziger Hip-Hop-Song mehr in den Top-40 der US-Billboard-Charts vertreten. Das ist erschütternd – nicht nur für bestimmte Leute, die sich für jung gehalten hatten und denen diese Nachricht bewusst macht, dass sie alt geworden sind, sondern auch für eine bestimmte Mode, die sich für cool gehalten hatte und der diese Nachricht bewusst macht, dass sie out ist.
In der Mode der letzten zehn Jahre waren Streetwear und Athleisure eindeutig die kommerziellen Treiber. Und wer „Streetwear“ sagte, der meinte nicht einfach nur „Straßenkleidung“, und wer „Athleisure“ sagte, der meinte nicht einfach nur „von Sport inspirierte Kleidung“, sondern immer auch „Kleidung mit Hip Hop Attitude“ – große Logos, oversized Hoodies, baggy Pants und aufgepumpte Sneaker. Alle wollten plötzlich ein bisschen Street sein. Hugo Boss kollaborierte mit Russell Athletic, Louis Vuitton mit Supreme, Dries van Noten mit Stüssy, Chanel mit Pharrell Williams, Dior mit Travis Scott, Calvin Klein mit A$AP Rocky, Adidas mit Beyoncé, Puma mit Rihanna, Reebok mit Cardi B und so weiter. Keine Musikrichtung hat die Mode in den letzten zehn Jahren so stark geprägt wie Rap.
Louis Vuitton, die größte Luxus-Modemarke der Welt, vertraute die kreative Leitung seiner Männerkollektion jemandem an, der vorher Hip-Hop-Merch entworfen hatte. Und als dieser drei Jahre später starb, nahm man als Nachfolger einfach gleich einen Rap-Musiker. Die Weltmarke Adidas begab sich sogar in eine so große Abhängigkeit von einem Rapper, dass es sie fast zerlegte, als der aufhörte, seine Tabletten zu nehmen.
Vor drei Jahren hatte ich hier auf profashionals geschrieben: „Oft sind die Modetrends über viele Saisons lediglich neue Variationen bereits bekannter Themen. Doch dann gibt es irgendwann plötzlich einen grundsätzlichen Bruch, ein ganz neues Lebensgefühl, eine völlig andere Grundstimmung, einen Vibe Shift“. Der Begriff „Vibe Shift“ ist deshalb so treffend, weil solche grundsätzlichen Wechsel im Kleidungsstil meist mit einem Wechsel im Musikstil einhergehen. In unseren Prognosen von damals ist nachzulesen: „Auch im wörtlichen Sinne gibt es in der Mode neue Vibes: Modenschauen und Modefilme werden immer seltener mit Hip Hop unterlegt.“ Der Vibe Shift, den wir damals angekündigt hatten, vollzieht sich jetzt.
Die durch die Abgänge im Hip Hop freigewordenen Chart-Plätze erobert derzeit eine Künstlerin, die so sehr das Gegenteil von einem amerikanischen Gangster-Rapper ist, dass man es kaum glauben mag: Rosalía ist nicht nur eine Frau und eine Europäerin, sie ist auch eine Tochter aus gutem Hause. Sie ist eine Intellektuelle, die dreizehn Sprachen spricht, ausgebildet an einem der renommiertesten Konservatorien Spaniens, mit einer klassisch geschulten Gesangsstimme, die ihre Lieder mit dem London Symphony Orchestra und einem deutschen Opern-Chor aufnimmt und – natürlich – mit Björk kooperiert.
Eben noch „Started from the bottom“, jetzt „Noblesse oblige“. So schnell kann es manchmal gehen.
Auch einige Modetrends der jüngsten Zeit sind so sehr das Gegenteil von Gangster, dass es schon wie ein Witz ist. Denn was könnte weiter von Ghetto entfernt sein als Cottagecore, was weiter von Breakdance Battle als Balletcore und was weiter von Thug Life als Tradwife?
Auch die Wiederentdeckung des Understatements und des Quiet Luxury kann und muss als Gegenreaktion auf die Logomania und das Bling Bling der Hip-Hop-Szene verstanden werden. Genauso wie man mit Old Money Style jetzt auf größtmögliche Distanz zum Imponiergehabe der Rapper geht. Schließlich sind deren goldene Ketten, glitzernde Grillz und iced out Uhren absichtlich das exakte Gegenteil von Old Money Style. Sie sind die Emanzipation des Neureichen. Sie sind der offensive Umgang mit der historischen Tatsache, dass man als Afroamerikaner ja nun einmal von vornherein von jeder Form von altem Geld ausgeschlossen ist.
„Started from the bottom now we here” – in den letzten zehn Jahren hatte man gerne mit dieser Underdog-Perspektive kokettiert. Selbst die Jugend aus den Villen-Vororten machte plötzlich auf Ghetto. Die Jungs übten Gangster-Posen und die Mädchen twerken. Und in der Pause nach dem Deutsch-Leistungskurs waren alle bemüht, wie Capital Bra zu sprechen. Aber das ist jetzt Vergangenheit.
Die Sneaker-Blase ist geplatzt, genauer gesagt, die Sneaker-Resell-Blase. Insbesondere die Wiederverkaufs-Preise für die einst so begehrten Modelle aus Nikes Kooperation mit dem Basketballer Michael Jordan sind abgestürzt. Aber das heißt nicht, dass Sneaker und Athleisure tot sind. Denn auch wenn sich durch den radikalen Vibe Shift gerade vieles ins Gegenteil verkehrt, so bleibt das urmenschliche Bedürfnis nach Tragekomfort und Pflege-Convenience doch eine verlässliche Konstante. Und so heißt es wie schon so oft in den letzten Jahren: Der Sneaker ist tot, es lebe der Sneaker! Athleisure ist tot, es lebe Athleisure!
Sport bleibt einer der wichtigsten Einflüsse auf unsere Alltagskleidung. Aber man möchte sich eben jetzt mit ganz anderen Sportarten identifizieren und mit ganz anderen Sportlern. Sah man sich eben noch mit dem Basketball in einem Käfig in der Bronx oder mit dem Skateboard in einer Halfpipe in Skid Row, so imaginiert man sich jetzt beim Rasentennis in Wimbledon oder beim Polo im Windsor Great Park.
Besonders bezeichnend ist wohl, dass die Outdoorjacke der Stunde jetzt nicht mehr der Oversize-Puffer ist, mit dem man in den Projects um ein brennendes Ölfass herumsteht, sondern die schmalschulterige Jagdjacke, in der man dafür Sorge trägt, dass in den weitläufigen Ländereien der Familie die Rotwildpopulation nicht überhandnimmt. Eben noch „Started from the bottom“, jetzt „Noblesse oblige“. So schnell kann es manchmal gehen.