Über 450 Teilnehmer und spannende Vorträge auf dem Deutschen Modehandelskongress 2011 gestern in Düsseldorf.
Marktforscherin Ulla Ertelt sieht die Branche vor einem Gezeitenwechsel: "Der Abschwung im Modemarkt hat bereits begonnen. Das wird zu strukturellen Veränderungen und einer erneuten Marktbereinigung führen." Das Internet verändere das Konsumentenverhalten. Bis zu 20 Prozent des Umsatzes dürften mittelfristig online laufen. "Wer nicht auf der Welle surft, wird überrollt."
Michael Arretz von Kik erklärte das Geschäftsmodell des Textildiscounters und erläuterte die umfassenden Nachhaltigkeitsinitiativen von Kik, die in insgesamt 125 Teilprojekte münden. "Da geht es manchmal um so simple Dinge wie Trinkwasser in den Nähereien. Es gibt nicht wenige Produzenten, die das nicht wollen, weil die Näherinnen dann womöglich während der Arbeit auf die Toilette müssen." Frustrierend empfindet er, dass die Kunden nicht wirklich empfänglich, ja teilweise sogar ignorant gegenüber diesen Themen seien. Das habe er auch schon zu seinen Otto-Zeiten erfahren müssen. "Es ist harte Arbeit, die Kunden für Nachhaltigkeit zu sensibilisieren."
Sport-Scheck-CEO Stefan Herzog präsentierte das Multichannel-Konzept des Sporthändlers, das auf den drei Säulen Stationär, Katalog und Internet fußt. Interessant war, zu sehen, dass das Wachstum, das Sport-Scheck in den vergangenen Jahren im Internet erzielt hat, praktisch voll auf Kosten des Kataloggeschäfts ging. 2010 lag der Umsatzanteil des Distanzhandels gegenüber 2005 praktisch unverändert bei 45 Prozent, wobei der Anteil des Internet-Absatzes am Distanzgeschäft von unter einem Viertel auf über drei Viertel wuchs. Bis 2015 plant Sport-Scheck den Katalog-Anteil auf Null zu bringen, das Book dient dann nur noch dem Anstoß und zur Orientierung. "Es ist vergleichsweise einfach, mehrere Kanäle nebeneinander aufzubauen. Die Herausforderung liegt in der Harmonisierung der Kanäle." Herzog präsentierte eine Fülle von technologischen Innovationen im Mobile-Bereich sowie im Filialgeschäft und machte wahrscheinlich nicht wenigen im Publikum Angst vor den Themen, mit denen sich der Handel in den kommenden Jahren beschäftigen wird müssen.
Christian Greiner hatte keine wirklich neue Botschaft zu verkünden: "Der Laden muss als Bühne für unsere Produkte verstanden werden." Darüber schrieb der legendäre Globus-Chef Peter Kaufmann schon Ende der 60er Jahre ein mehrere hundert Seiten dickes Buch. Doch der Ludwig Beck-Vorstand untermauerte seine Forderung sehr anschaulich mit unzähligen Beispielen aus dem internationalen Einzelhandel, darunter Bekanntes wie Abercrombie + Fitch, Selfridges und Ralph Lauren. Aber auch weniger prominente Konzepte wie Kauf Dich Glücklich, Chrome Hearts und Tokyo Girls Collection.
Michael Horst berichtete in einer detaillierten Case Study, wie sich Brax vom Hosen-Spezialisten zum vertikalen Komplettanbieter und Brand entwickelt.
Prof. Andreas Kaapke von der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Stuttgart sprach über die demografische Entwicklung in Deutschland. Und die ist bekanntlich problematisch: "Keine Kinder kriegen keine Kinder", brachte er die Sache in seinem humorvollen Vortrag auf den Punkt. Und er kritisierte den Handel, dass dieser nur unzureichend auf die speziellen Bedürfnisse der älteren Zielgruppe eingestellt Sie. Das fängt bei zu schmalen Parkplätzen und automatischen Türen an und reicht über falsche Sitzgelegenheiten und fehlenden Toiletten bis hin zu den Umkleidekabinen an, die häufig nur unzureichend sichtgeschützt sind. "Es gibt nur wenige Menschen, die so exhibitionistisch veranlagt sind, sich anderen nackt zu zeigen."
Ludger Schöllgen pries Neckermann.de als Vertriebspartner-Plattform an. Was vielen im Publikum dann doch ein wenig zu platte Werbung war.
Bruno Sälzer gab den coolen Escada-Chef und sammelte mit viel Selbstironie Punkte beim Publikum. "Ich war 16 Jahre weg. Bei Escada zählt jedes Jahr mal Vier." Escada – in den 90er Jahren mal die weltgrößte Luxusmodemarke – habe eine wechselvolle Geschichte hinter sich. "Da war immer was los, bis hin zum Untergang." Kurz vor der Insolvenz habe man in Berlin noch eine Riesen-Party geschmissen. "Im Luxussegment operiert man gerne mal abseits von normalen wirtschaftlichen Zusammenhängen." Sälzer machte deutlich, wieviel er in den letzten Jahren in München bewegt hat. "Das war wie bei einem Start-up. Nur mit 2300 Mitarbeitern." Nun gehe es wieder aufwärts, selbst im wichtigen Markt Japan, wo die Geschäfte für die meisten Anbieter nach Fukushima eingebrochen sind. "Unerklärliche Erfolge sind mir lieber, als wenn ich genau weiß, warum es nicht läuft."
Esprit-CEO Ronald van der Vis stellte sich erstmals auf einem Kongress einem größeren Branchenpublikum. Seine Präsentation über "The New Esprit" war sympathisch und überzeugend. "Unser Ziel ist es, Esprit wieder zu einer führenden und inspirierenden Modemarke zu machen. Kein Facelift, sondern ein tiefer und nachhaltig wirkender Transformationsprozess. Das braucht Zeit." Und Geld: Esprit will in den kommenden vier Jahren bekanntlich 1,7 Mrd. Euro in Produkt, Kommmunikation und Vertrieb investieren. Van der Vis signalisierte dem Publikum weitgehende finanzielle Zugeständnisse bei Ladeneinrichtung, Store-Expansion und Warenrücknahme. Im Gegenzug verlangt er das Committment des Handels. "Wir wollen nur noch mit Partnern zusammenarbeiten, die sich auch zu unserer Marke bekennen."
Am Vorabend begeisterte Pantomime Samy Molcho das Publikum: "Existenz ist Wirkung."
******
Wenn Sie keine Profashionals-Beiträge verpassen wollen, empfehle ich Ihnen, ein Update einzurichten. Einfach rechts oben E‑Mail-Adresse eingeben, „Jetzt abonnieren“ anklicken und kurz bestätigen.
Vielen Dank für Ihr Interesse!