Sind denn plötzlich alle verrückt geworden? Wobei ich das jetzt mal an unsere Fashionbranche adressiere. Im Anlagenbau bin ich nicht zuhause. Das müssen dann andere bewerten.
Als allererstes empfehle ich mal, weniger Nachrichten zu schauen/lesen. Das Gute, das in der Welt passiert, wird man dort kaum vernehmen, und das Schlechte bessert sich nicht von einem Tag auf den anderen. Wenn ja, bekommt man das so oder so mit. Jeder Hobby-Psychologe weiß, dass er nur mal kurz eine Minute lächeln muss, um bessere Laune zu bekommen. Ist aber zu albern, und deshalb macht es keiner. Schlechte Nachrichten zu repetieren ist gesellschaftlich leider anerkannt. „Der weiß was!“
Gerade ist unsere Branche im Aufruhr, weil Zalando About You verspeist. So what? Wir bleiben ja nicht an jedem Autobahnunfall stehen und glotzen. Obwohl, wenn das polizeilich nicht verboten wäre.… Also machen wir es besser wie beim Yoga: Du beobachtest deine Gedanken liebevoll – auch die negativen – und lässt sie weiterziehen.
Die Jahre über haben wir uns mit der Plattform-Idee die Nerven ruiniert und den Geldbeutel gleich noch mit. Vor allem die Fachpresse hat uns erklärt, dass das ganz wichtig ist. Als Wiederverkäufer brauche ich keinen Taschenrechner, um zu errechnen, dass das Murks war. „Omnichannel“, auch eine geile Erfindung, die unter der Rubrik „Viel Rauch um Nichts“ zu verbuchen ist. Cheech und Chong lassen grüßen.
Temu und Shein sind jetzt die Endgegner, die uns angeblich den Garaus machen. Die sollten eher Amazon und Zalando Angst einflößen. Bei Zalando hat es ja geklappt. Die haben reflexartig den Renditeversager About You gekauft und erzählen die lustige Nummer vom „Synergien heben“. Das hatte damals Daimler auch mit Chrysler „sehr erfolgreich“ umgesetzt (ein kleiner Scherz sei erlaubt). Dass dieser Taschenspielertrick heute noch funktioniert.…
Aber jetzt! Trommelwirbel!!! Jetzt kommt KI! Jetzt bekommen wir alle einen auf den Deckel. Glaube ich zwar auch, aber mit meinen inzwischen 64 Jahren male ich mir aus, dass die KI mich älter als Johannes Heesters werden lässt. Ein Alter, was ich allerdings, eben wegen der KI, wohl nicht mehr erleben werde. Oder doch? Sei´s drum. Auch hier gilt: Es sind eher Amazon und Zalando, die sich in die Hosen machen müssten. Der unabhängige Fachhandel sollte das mit derselben Haltung betrachten wie das neue iPhone 16: mit Interesse und nicht mit dem Wahn, das jetzt auch auf die Schnelle einsetzen zu müssen. Ok. Breuninger vielleicht. Deren Handelsparte ist ja, wie wir inzwischen wissen, schier unbezahlbar (sorry, ich bin gerade zum Scherzen aufgelegt).
Aber jetzt mal im Ernst! Kriege wurden noch nie an der Gulaschkanone gewonnen, sondern an der Front (um mal im aktuellen Nachrichten-Jargon zu bleiben). Ohne Nachschub geht es nicht, aber den kann man getrost den Logistikern überlassen. Der General sitzt auf seinem Hügel und beobachtet, was auf dem Schlachtfeld abgeht. Vorne wird über Sieg oder Niederlage entschieden. Wenn der Herr General sich aber um jeden Scheiß kümmert, wird er den Blick fürs Geschehen verlieren. Und die Schlacht verlieren.
Wer jetzt noch versucht, mit „Datenexzellenz“ den „Krieg“ gegen die Vertikalen zu gewinnen, wird scheitern.
Was passiert gerade auf unserem „Schlachtfeld“ der Mode?
Zara reißt uns den Arsch auf und zwar noch deutlich besser als H&M. Mit Bershka im Schlepptau haben die uns mal kurz gezeigt, wo der Hammer hängt. Ja genau! Für die taugen die ganzen neuen Technologien nämlich zu 100%. Weil sie vertikal sind! Wer jetzt noch versucht, mit „Datenexzellenz“ (das geilste neue Modewort der Branche und mein Favorit für das Wort des Jahres 2024!) den „Krieg“ gegen die Vertikalen zu gewinnen, wird scheitern. In dieser Kampfeskunst sind sie übermächtig. David gegen Goliath.
Goliath muss aber auch nicht noch den Einzelhandel mit dem Wholesale gleichschalten, worin übrigens auch ein Grund für den langjährigen Niedergang von Esprit und S.Oliver liegt. Wer zwei Hasen jagt, wird keinen fangen. Dieses Thema muss auch perfektioniert werden, keine Frage, aber das gehört schon wieder in die Kategorie Gulaschkanone.
Wo ist denn eigentlich im Modehandel die Front?
Die beginnt an der Eingangstür. Und das ist genau der Ort, der uns zurecht Sorgen machen muss. Es kommen zu wenige Leute zur Tür rein. Es sind vielerorts nur noch die Alten, die kommen. Die Baby Boomer haben Geld, aber leider – so ist das zumindest bei mir – keinen reißenden Fluss von Wünschen mehr. Ich besitze schon jeden Mist und tue mich schon mit Weihnachtswünschen schwer. Als ich jung war, hatte ich kein Geld, aber viele Wünsche. Wobei ich langsam zum Thema komme und mich gleich bei allen bedanke, die bisher durchgehalten haben.
Die Jugend hat Ideen und unerfüllte Wünsche! Die Jungs und Mädels schauen natürlich weniger Nachrichten als wir Alten. Sie brauchen die Zeit zum Leben. Es ist womöglich eine Frage der Biochemie. Man kann sich die Hormone künstlich zuführen, wird aber trotzdem nie mehr in den Betriebszustand der Jugend kommen. Weshalb man sie auch nicht mehr versteht. Entweder du gehörst dazu oder nicht. Sorry to say, aber die verstehen uns Alten ja auch nicht.
Was macht die Jugend, während wir Alten der Fashionbranche mit glühendem Kopf über den Problemen der Zeit grübeln? Sie gehen zu Bershka und kaufen sich eine Baggy-Jeans. Zum Beispiel. Und wir realisieren das erst, wenn Heerscharen von Kids in Baggy Jeans die Innenstädte des Landes bevölkern.
Industrie und Filialisten haben das Bauchgefühl in den Nullerjahren erfolgreich ausgemerzt. Übrigens sind das die, die jetzt entweder nicht mehr da sind oder ganz arg schwächeln.
Die KI könnte mir vielleicht erklären, dass die Frequenz im Einzelhandel zurückging, weil die Kids nicht mehr gekommen sind, und womöglich prognostizieren, dass sie enorm nach oben ginge, wenn sie wieder zurückkämen. Für mich reicht dazu gesunder Menschenverstand. Schon meine Großmutter Apollonia hatte mich ermahnt, mir diesen zu bewahren. Vielleicht habe ich es also meiner Großmutter zu verdanken, dass mein Sohn Julian und ich 2016 auf die Rückkehr der Baggy Jeans setzten. Schließlich zeigte Homeboy die ersten Baggy Pants schon 1991, womit dieser Look zur DNA der Marke gehört. Die Logik war einfach: selbst die dicksten Bäuche in meinem Bekanntenkreis trugen Skinny Jeans. Die Revolution war damit abzusehen und die Wiederkehr der Baggy nur eine Frage der Zeit.
Leider haben Bershka und Zara die Zeichen der Zeit besser erkannt als der komplette Fachhandel. Was auch immer der Grund dafür ist. Ob es in der Modebranche an Mut fehlt? Ohne Mut geht es nicht. Aber in der Fashionbranche haben, wie es aussieht, alle die Hosen voll. Industrie und die großen Filialisten haben das Bauchgefühl in den Nullerjahren erfolgreich ausgemerzt. Übrigens sind das die, die jetzt entweder nicht mehr da sind oder ganz arg schwächeln.
Was also tun?
Eine Möglichkeit ist, mutig nach vorne zu stürmen, um unsere Kunden mit frischen Ideen zu überraschen. Mut wird belohnt! Man kann sein Leben nicht ausrechnen und die Mode auch nicht. Das kann die KI aber auch nicht. Zumindest noch nicht.
Was die KI aber auch künftig nicht können wird, ist Menschen zu begeistern. Das kann aber ein Verkäufer, wenn er etwas zum Begeistern hat. Dann kann ein Funke überspringen. Und wenn viele Funken überspringen brennt das Feuer der Begeisterung lichterloh!
Jürgen Wolf ist Gründer und Mastermind von Homeboy. Er hob das Skatewear-Label 1988 aus der Taufe und gehörte damit zu den Streetwear-Pionieren in Deutschland. In den 90er Jahren erlebte Homeboy einen rasanten Aufstieg, in den vergangenenen Jahren war es faktisch vom Markt verschwunden. 2015 hat Wolf die Marke wiederbelebt. Und startet mit seinem Sohn Julian damit durch.