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Kunde vor Kanal

Es geht im Handel von morgen nicht primär um die Bewirtschaftung von Vertriebskanälen. Es geht mehr denn je um wertstiftende und differenzierende Angebote für Kunden. Die strategische Währung ist ‚Customer Lifetime Value‘, sagt Stefan Wenzel.
Stefan wenzel
Stefan Wenzel

In der Wahrnehmungsforschung spricht man von ‚target fixation‘ (Zielbindung), wenn jemand vor lauter Fokus auf ein zu umfahrendes Objekt in ebendieses hineinkracht. Im übertragenen Sinn gibt es das Risiko auch in unserer sich im Umbruch befindenden Branche. Bei vielen tradierten Händlern und Herstellern ist das gute alte Ladenlokal das riskant fixierte Objekt. Fixierung, weil man sich trotz der langanhaltenden Abwärtsentwicklung des Stationärgeschäfts dennoch an dieses Medium klammert, es im Kern oft mehr als Zweck denn als Mittel empfindet. Stationäre Läden wie ein zum Teil von der Realität entkoppeltes Ankermedium des Herzens.

Die Realität ist indes recht eindeutig. Mode ist im Jahr 2021 im Netz um 16% gewachsen, während der Stationärhandel 20% verloren hat nach bereits 30% Minus im Jahr zuvor. Klar, die Pandemie hat alles zusätzlich beschleunigt und die Dynamiken haben sich mittlerweile wieder normalisiert. Aber auch wenn sich der Anteil von zuletzt mehr als 50% in Fashion mit dem Ende der Pandemie wieder reduzieren wird, ist Online auch im Modehandel das künftige Leitmedium.

Liegen die eigenen Anteile deutlich unter dem Markt, hat sich das Geschäft von ebendiesem entkoppelt. Das mag in lokalen Einzelfällen konzeptkonform sein, für die meisten Player bedeutet es aber, hinter der maßgeblichen digitalen Welle zu sein.

Statt aber auf, oder besser noch vor die digitale Welle zu kommen, spricht man nunmehr Mantra-artig von Omnichannel. Das klingt progressiv, meint aber oft und insgeheim bloß Maßnahmen zur Stützung der stationären Flächen. Der Erhalt eines Mediums dürfte dabei eigentlich selten der Geschäftszweck der Unternehmung sein, in den meisten Fällen dürfte es um positive Deckungsbeiträge und Betriebsergebnisse aus Kundenbeziehungen gehen. Diese Fixierung auf analoge Stolpersteine führt aber dazu, dass man immer noch mehr Geld für Store-Eröffnungen und ‑Renovierungen ausgibt als für alle Aktivitäten im Leitmedium Digital zusammen. Man führt aufwändig ‚Click & Collect‘ ein und erklärt es zu einer mehrwertstiftenden Kundenproposition, Produkte vor dem Kauf nicht anfassen zu können, sie aber selbst abholen zu müssen. Auch das primär als Gegenmaßnahme für den Frequenzrückgang im Ankermedium des Herzens.

Damit fehlen wichtige Ressourcen und Fokus für die eigentliche Aufgabe: an wertstiftenden, differenzierenden Leistungsversprechen als unternehmerische Keimzelle zu feilen und darauf aufbauend skalierbare Kundenzugänge aufzubauen.

Change-Management oder change Management? Wie auch immer die Antwort lautet, eins ist sicher: Wenn es besser werden soll, muss es anders werden.

Es geht im Handel von morgen nicht um die Bewirtschaftung von Vertriebskanälen, die Anzahl der Türen oder die Schönheit der Rolltreppen. Es geht um wertstiftende und differenzierende Angebote für Kunden. Und ‚Customer Lifetime Value‘ ist dabei die strategische Währung jenseits der Handelsspanne. Das ist per Definition ein datenbasierter Ansatz, und die Kunden bestimmen dabei die Medien, in denen Sichtbarkeit, Interaktion und Services von Relevanz sind, nicht die Firmen-Chronik.

Der Ausblick im Konsumentenmarkt wird sich durch die jüngsten weltpolitischen Vorgänge verändern. Zuletzt hatte das IFH das Wachstum des Online-Handels auf bis zu 60 Mrd. EUR bis 2025 geschätzt, das meiste davon durch weitere Verschiebung von Stationär zu Online. Darin liegt für die einen viel Risiko, für andere bedeutet es viele Möglichkeiten. Die dafür wichtige Änderung der Perspektive weg vom (stationären) Kanal hin zum Kunden fühlt sich für einige Händler und Hersteller ungewohnt an; weder passt das aktuelle Selbstverständnis noch die aktuelle Aufbau- und Ablauforganisation dazu. Das sind aber genau die Themen. Change-Management oder change Management? Wie auch immer die Antwort lautet, eins ist sicher: Wenn es besser werden soll, muss es anders werden.

Stefan Wenzel ist seit mehr als 20 Jah­ren im Digi­ta­len Han­del und einer der pro­fi­lier­tes­ten Köp­fe der Bran­che. Sei­ne Vita beinhal­tet unter ande­rem Sta­tio­nen als Geschäfts­füh­rer für Unter­neh­men wie Ebay, brand4friends, Otto, Mexx und Tom Tailor Digi­tal. Ste­fan Wen­zel unter­stützt Fir­men, Grün­der und Geschäfts­füh­rer als digi­ta­ler Bei­rat, ist regel­mä­ßi­ger Spre­cher auf Fach­kon­fe­ren­zen, Inter­view- und Pod­cast-Gast. www.stefanwenzel.com

Bei­trä­ge von Ste­fan Wen­zel