
Soziale Netzwerke sind längst mehr als Werbekanäle, sie sind zu Produktionsfaktoren geworden. TikTok, Instagram und YouTube erzeugen Nachfrage, noch bevor traditionelle Marken darauf reagieren können. Wer ein günstiges Produkt entdeckt, das aussieht wie Celine oder Prada, wird nicht belächelt, sondern gefeiert. Die Algorithmen der Plattformen kuratieren virale Dupe-Trends nahezu automatisch, allen voran TikTok.
Gleichzeitig machen Marktplätze wie Temu, Shein, AliExpress oder TikTok Shop das passende Produkt in Rekordzeit verfügbar. Der Kreislauf aus Trend-Trigger über Social Media und Echtzeit-Lieferfähigkeit über Plattformen macht die Dupe-Ökonomie zu einem sich selbst verstärkenden System.
Ironischerweise tragen die Luxusmarken selbst zur Verbreitung der Dupe-Kultur bei – vor allem durch ihre Preiserhöhungen. Labels wie Louis Vuitton, Chanel oder Hermès haben ihre Preise in den letzten Jahren zum Teil mehrmals jährlich angehoben, oft im zweistelligen Prozentbereich. Die Folge: Aspirative, oft junge Zielgruppen fühlen sich zunehmend ausgegrenzt. Aber auch für zahlungskräftigere Kunden klafft die Schere zwischen Preis und wahrgenommenem Wert immer öfter zu weit auseinander. Was man sich früher als „Splurge Purchase“ – den gelegentlichen Luxusmoment – gegönnt hat, ist heute für viele finanziell nicht mehr darstellbar.
Die Antwort der Konsumenten ist pragmatisch: Sie greifen zu günstigen Alternativen – nicht aus Desinteresse am Luxus, sondern aus ökonomischer Notwendigkeit. Die Dupe-Economy bedient ein Bedürfnis, das der Luxusmarkt zunehmend ignoriert: Zugang.
Was steht für Marken auf dem Spiel?
Für etablierte Marken birgt dieser Wandel strategische Risiken. Erstens der Verlust von Exklusivität und Differenzierung: Wenn das Design einer 2.000 Euro teuren Handtasche innerhalb weniger Tage als No-Name-Produkt bei Shein auftaucht, wird das Original entwertet – unabhängig von Qualität und Material. Die emotionale Aufladung ist dahin.
Zweitens die Erosion der Markenbindung: Junge Käufer lernen, dass sie den Look auch ohne Logo und meist zu einem besseren Preis-Leistungs-Verhältnis bekommen. Wer mit Dupes sozialisiert wird, entwickelt möglicherweise nie eine emotionale Bindung zur Originalmarke.
Drittens eine Innovationsbremse: Kreative Konzepte werden risikoreicher, wenn sie binnen Wochen kopiert werden – nicht immer legal, aber oft jenseits wirksamer Gegenwehr. Vor allem kleinere Labels ohne internationale IP-Abteilungen sehen sich einem existenziellen Risiko ausgesetzt.
Rechtlich bewegen sich Dupes in einer Grauzone: keine Logos, keine geschützten Symbole, keine direkten Markenrechtsverletzungen. Designrechte und Geschmacksmusterschutz greifen nur bedingt, insbesondere wenn die Dupe-Produkte gezielt leicht abgewandelt werden. Zwar setzen einige Unternehmen verstärkt auf Designpatente, doch diese schützen vor allem funktionale und originäre Innovationen, weniger ästhetische Gestaltungsmerkmale. Der rechtliche Schutz ist daher schwach und im Plattformzeitalter kaum skalierbar.
Was bedeutet das für Marken und Händler?
Die Dupe-Economy ist kaum aufzuhalten, sie demokratisiert Trends, fordert alte Machtverhältnisse heraus und verändert Konsummuster. Die Antwort darauf sind Inhalte statt eskalierender Preiserhöhungen ohne Bezug zum Produktwert. Produktmehrwerte müssen geschaffen und neu kommuniziert, authentische Geschichten neu erzählt werden: Welche Haltung, Herkunft, Handwerkskunst rechtfertigt den Preis? Welche kulturelle, soziale oder ökologische Erzählung macht das Produkt relevant? Was ist die Substanz jenseits von Logo und Prestige?
Für viele bedeutet das ein Umdenken: Transparenz statt Arroganz, Innovation statt Abwehr, Relevanz statt Nostalgie. Wer in der Dupe-Economy bestehen will, muss sich klar positionieren – zum Beispiel gegen Fast Fashion, für echte Nachhaltigkeit, für kreative Originalität. Regulatorische Maßnahmen wie die EU-Debatte über Fast Fashion oder die jüngsten Zolldisruptionen der neuen US-Regierung könnten je nach Ausgang die Karten neu mischen – von zusätzlichen Warenströmen aus Asien über neue Lieferketten bis hin zu neuer europäischer Wertschöpfung.
Für Händler klingt die Dupe Economy nach neuem Wachstum – theoretisch. In der Praxis dürften nur digitale Plattformen mit tiefem Lieferantenzugang, hoher Agilität und algorithmischer Reichweite das Tempo mitgehen können. Ein neues Problem in einem ansonsten veralteten Modell mit 9–12 Monaten Produktionsvorlauf, hohen Lagerbeständen, Überhängen und Retouren.
Die Dupe Economy ist der Reality Check nicht nur für das Luxus-Segment
Die Dupe-Economy ist kein Randphänomen, sondern ein Riss in der bisherigen Markenlogik. Sie entzaubert den Luxusmythos, offenbart die Verletzlichkeit etablierter Marken und schafft neue Realitäten für Konsum, Kreativität und Wettbewerb in digitaler Echtzeit. Was in der Mitte der Preispyramide begann, wirkt nun nach oben. Wenn Logos und Marken-Halos den Produktpreis nicht mehr rechtfertigen können, braucht es überzeugende Antworten auf die existenzielle Kernfrage: Warum soll ich dich kaufen?
Stefan Wenzel ist seit mehr als 20 Jahren im digitalen Handel und einer der profiliertesten Köpfe der Branche. Seine Vita beinhaltet unter anderem Stationen als Geschäftsführer für Unternehmen wie Ebay, brand4friends, Otto, Mexx und Tom Tailor Digital. Stefan Wenzel unterstützt Firmen, Gründer und Geschäftsführer als digitaler Beirat, ist regelmäßiger Sprecher auf Fachkonferenzen, Interview- und Podcast-Gast. www.stefanwenzel.com