Dass der stationäre Modehandel im Jahr 2023 im Vergleich zu vor Corona 17% an Umsatz verloren und der Online-Modehandel laut HDE/IfH zeitgleich 37% hinzugewonnen hat, ist ebenso bekannt wie die Tatsache, dass Marktplätze in Europa rund 70% des gesamten E‑Commerce ausmachen (laut ECDB). Dass europäische Plattformen im globalen Maßstab keine Rolle spielen, ist auch bekannt. Dass sich aber unter den globalen Top 10 neben drei US-Unternehmen (Amazon, Walmart, Ebay) sieben asiatische Player befinden, ist deshalb spannend, weil bekanntlich einige der asiatischen Giganten und solche, die es noch werden möchten, Europa als Wachstumsvektor erkannt haben.
Neben allerlei wirtschaftspolitischer Thermik bedeutet dies, dass sich auch unsere lokalen Plattformen und vermeintliche Disruptoren des lokalen stationären Handels seit einigen Monaten selbst einer neuen, disruptiven Konkurrenz ausgesetzt sehen. Das Ausmaß und die Geschwindigkeit dieser Entwicklung lässt sich an den Reichweiten innerhalb der EU ablesen, die alle VLOPs (“Very Large Online Platforms”) im Rahmen des Digital Services Act an die EU-Kommission melden müssen. Diese Daten zeigen neben der nach wie vor bestehenden Dominanz von Amazon, dass Temu, Shein und AliExpress die westlichen Player – mit Ausnahme von Amazon – bereits nach dieser kurzen Zeit im Rückspiegel sehen.
Konkurrenz belebt das Geschäft, sagt bekanntlich die Eckbüro-Plattitüdensammlung. Dass das aber bitte idealerweise immer nur für die anderen gelten soll, weiß der Handel aus 30 Jahren schmerzhafter Digitalisierung. Für die deutschen Online-Plattformen ist das allerdings gänzlich neu, hat doch die digitale Flut die meisten deutschen Boote über Jahre mit angehoben, und viel Ähnliches konnte parallel zueinander Marktanteile vom stationären Handel übernehmen. Die Intensität dieses neuen Wettbewerbs ist ebenso hoch wie die Art und das Timing ungünstig: Im Spektrum von billigen Lebenshelfern und Nonsens aus Plastik über vergleichbare Ware nur ohne Logos bis hin zu identischen Produkten ist alles ab Werk und ohne Zwischenhändler zu einem Bruchteil unserer Preise verfügbar – und das in einer Zeit, in der unsere Nachfrage stagniert und die Schnäppchensehnsucht der Kunden besonders blüht.
Während die Verbände um “level playing fields” für den Import von Einzelsendungen aus China in die EU kämpfen, bauen die kritisierten Plattformen im Westen Infrastruktur für ihre Distribution auf
Die Reaktionen der westlichen Plattformen sind dabei so unterschiedlich wie das Produkt aus empfundener Bedrohung und motivationalem Selbstverständnis sein kann. In diesem Kontinuum gibt es Marktteilnehmer, die in den neuen Wettbewerbern reine Ramsch-Rampen ohne Konkurrenz zum eigenen Angebot an westlichen Marken sehen – während erste Bestände von adidas, Nike, Puma, Ray Ban & Co. durch die überdistribuierten Wholesale-Ritzen in die Apps der Asiaten sickern. Andere hoffen auf die Kraft der Regulierung und unterschätzen dabei die Reaktionsgeschwindigkeit dieser rein digitalen Player und deren Investitionsbereitschaft. Denn während beispielsweise Verbände und Interessengemeinschaften um “level playing fields” für den Import von Einzelsendungen aus China in die EU kämpfen, bauen derweil nicht nur die kritisierten Plattformen im Westen Infrastruktur für ihre Distribution auf – unterstützt von der chinesischen Regierung (“Silk Road E‑Commerce”-Initiative) und im Verbund mit mehr als 20 anderen Ländern.
Amazon, bei dem heute schon ca. 60% des Angebots von asiatischen Anbietern stammt, klont Temu in einem dedizierten Billigkonzept und tauscht Liefergeschwindigkeit gegen Preisnachlass. Otto setzt auf seine Rolle als weißer Ritter unter den Plattformen, bei dem Nutzer auf ehrbare Kaufleute treffen. About You war der schnellste in der Ankündigung von Anlehnungen wie der direkten Anbindung von Eigenmarkenlieferanten oder der spielerischen Aktivierung seiner Nutzer, sieht sich aber vor allem durch den Markenmix differenziert. Zalando setzt stärker auf sich selbst als Marke und sucht die Differenzierung über Content und Experience sowie eine erwachsenere und wertigere Positionierung.
Inwieweit diese Ansätze ausreichen, darf diskutiert werden. In jedem Fall werden all jene Lügen gestraft, die glaubten, die Großen seien zu schwerfällig, um die überfällige Differenzierungsarbeit zu leisten. Dabei sollte jedoch klar sein, dass Differenzierung etwas anderes ist als Features, Logos oder PR-Sprech. Differenzierung muss für Kunden relevant, erlebbar und vom Mond aus wahrnehmbar sein – und gleichzeitig müssen Antworten auf die Fragen gefunden werden, die sich aus der veränderten Handelstektonik ergeben. Zu diesen Fragen gehören unter anderem:
Welche Rolle spielen Shopping-Destinationen, wenn immer mehr Nutzer ihre Zeit in anderen Destinationen verbringen und immer häufiger auch dort einkaufen können?
Was muss (an)geboten werden, um den direkten Zugang zum Kunden zu halten?
Wie löst man das Problem der Beliebigkeit und Austauschbarkeit des Sortiments, wenn der Anteil an gleichen Drittanbietern auf den Plattformen stetig steigt?
Wie entstehen wettbewerbsfähige Verkaufspreise und Reichweite und wessen Marge wird darin investiert?
Wie sieht das Geschäftsmodell aus, das für die Plattform und ihre Verkäufer ausreichende Deckungsbeiträge erzielt?
Die Antworten auf diese Fragen sind weder eindeutig noch trivial und dennoch entscheidend für die nächsten Runden im Spiel. Die Karten dafür werden aktuell neu gemischt, die Gewinner stehen noch nicht fest. Das erhöht die Spannung und Änderungsbereitschaft, setzt Energie frei. Und wie wichtig das wiederum ist, zeigt ein Blick in die Erkenntnisse der Evolutionsforschung: die Dauer der bisherigen Existenz korreliert nicht mit Zukunftsfähigkeit. Let the games begin.
Stefan Wenzel ist seit mehr als 20 Jahren im Digitalen Handel und einer der profiliertesten Köpfe der Branche. Seine Vita beinhaltet unter anderem Stationen als Geschäftsführer für Unternehmen wie Ebay, brand4friends, Otto, Mexx und Tom Tailor Digital. Stefan Wenzel unterstützt Firmen, Gründer und Geschäftsführer als digitaler Beirat, ist regelmäßiger Sprecher auf Fachkonferenzen, Interview- und Podcast-Gast. www.stefanwenzel.com