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Schluss mit der Diskriminierung von Mehrheiten!

Durch Bilder von älteren und übergewichtigen Menschen wird eine Marke nicht mehr uncool und unsexy. Ganz im Gegenteil. Das ist neu, stellt Carl Tillessen fest. Und notwendig.
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Carl Til­les­sen

Es ist wis­sen­schaft­lich erwie­sen: Was wir schön fin­den und was nicht, wird uns nur zu einem ganz klei­nen Teil von der Natur mit­ge­ge­ben. Zu einem viel grö­ße­ren Teil wird es geprägt, und zwar durch mere expo­sure. Auf Deutsch: Je öfter wir etwas sehen, des­to schö­ner erscheint es uns.

Inso­fern hat die Mode­indus­trie tat­säch­lich einen erheb­li­chen Ein­fluss auf das gän­gi­ge Schön­heits­ide­al, näm­lich durch die Bil­der, die sie kon­ti­nu­ier­lich pro­du­ziert und ver­brei­tet. Sie ist wirk­lich mit­ver­ant­wort­lich dafür, ob Men­schen sich in ihrem gesell­schaft­li­chen Umfeld schön füh­len kön­nen oder häss­lich füh­len müs­sen. Und dafür wird sie zuneh­mend zur Ver­ant­wor­tung gezo­gen.

Ins­be­son­de­re wur­de und wird der Mode­indus­trie immer wie­der vor­ge­wor­fen, durch das Cas­ting von extrem mage­ren Models ein eben­so unrea­lis­ti­sches wie unge­sun­des Kör­per­bild zu eta­blie­ren und dadurch mit schuld dar­an zu sein, dass fast jede zwei­te Frau mit ihrer Figur unzu­frie­den ist und jeder fünf­te Mensch ess­ge­stört. In den zurück­lie­gen­den Sai­sons hat die Mode­indus­trie begon­nen, die­se Ver­ant­wor­tung anzu­neh­men: Plus-Size Models auf den Covern von Zeit­schrif­ten wie Vogue und Cos­mo­po­li­tan, genau­so wie auf den Lauf­ste­gen von Cha­nel bis Balen­cia­ga. Wäsche-Kam­pa­gnen von Fen­ty bis Cal­vin Klein zele­brie­ren den Sex-Appeal kur­vi­ger Frau­en. In den Läden von Nike gibt es Plus-Size-Schau­fens­ter­pup­pen, und in den Online-Shops von Good Ame­ri­can oder Asos kann man aus­wäh­len, ob man die ange­bo­te­ne Klei­dung an einem schlan­ke­ren oder an einem dicke­ren Model sehen will. Mode­un­ter­neh­men zei­gen, dass sie, nicht nur, aber eben auch Klei­dung in gro­ßen Grö­ßen haben. Die dicken Kund:innen dan­ken es ihnen, und die schlan­ken Kund:innen respek­tie­ren es.

Ermu­tigt durch die­se posi­ti­ve Reso­nanz wagt sich die Mode nun an ein Cas­ting, das nicht nur beim Gewicht eine grö­ße­re Viel­falt zeigt, son­dern auch beim Alter. Pra­da, Bal­main, Arma­ni, Ver­sace, Dol­ce & Gab­ba­na – in der letz­ten Schau­en­run­de zeig­ten mehr als 70 Pro­zent der Top-20-Mar­ken älte­re Models.

Endlich können Modeunternehmen sich dazu bekennen, diese absolut unumgänglichen Zielgruppen zu bedienen, ohne wie früher sofort auf diese Zielgruppe reduziert zu werden.

Bei all dem geht es um eine dop­pel­te Eman­zi­pa­ti­on – eine Eman­zi­pa­ti­on auf der Sei­te der Modekund:innen und eine Eman­zi­pa­ti­on auf der Sei­te der Mode­an­bie­ter. In Deutsch­land sind mehr als die Hälf­te aller Frau­en und mehr als zwei Drit­tel aller Män­ner über­ge­wich­tig. Fast drei Vier­tel aller Men­schen gehö­ren älte­ren Gene­ra­tio­nen an. End­lich müs­sen sich all die­se Men­schen nicht mehr von der Mode aus­ge­schlos­sen füh­len. Die Mode bie­tet ihnen Bil­der, in denen sie sich wie­der­erken­nen, und Vor­bil­der, mit denen sie sich iden­ti­fi­zie­ren kön­nen. Sie sind ange­se­hen. Ihre Bedürf­nis­se wer­den gese­hen. Ihre Schön­heit wird gese­hen. Das ist neu.

In Deutsch­land ist die abso­lu­te Mehr­heit aller Men­schen über­ge­wich­tig und/oder fort­ge­schrit­te­nen Alters. End­lich kön­nen Mode­un­ter­neh­men sich dazu beken­nen, die­se abso­lut unum­gäng­li­chen Ziel­grup­pen zu bedie­nen, ohne wie frü­her sofort auf die­se Ziel­grup­pe redu­ziert zu wer­den. Sie kön­nen all die­sen Men­schen ein Ange­bot machen, ohne sofort als ält­li­che Über­grö­ßen-Mar­ke abge­stem­pelt zu wer­den. Durch Bil­der von älte­ren und über­ge­wich­ti­gen Men­schen wird eine Mar­ke nicht mehr uncool und unse­xy. Ganz im Gegen­teil. Auch das ist neu.

Die Reso­nanz auf die rei­fe­ren Models die­se Sai­son über­traf nicht nur bei wei­tem die Erwar­tun­gen, sie über­traf auch bei wei­tem die Reso­nanz auf die Plus-Size-Models in den vor­an­ge­gan­ge­nen Sai­sons. Die Auf­trit­te von Kur­ven­stars wie Palo­ma Elses­ser und Ash­ley Gra­ham hat­ten den Mar­ken Aner­ken­nung ein­ge­bracht, die Auf­trit­te von Model­ve­te­ra­nin­nen wie Gina di Ber­nar­do und Nao­mi Camp­bell hin­ge­gen brach­ten ihnen Sze­ne

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Miu Miu FW 2024 Paris Fashion Week Febru­ary 2024

nap­plaus. Kris­tin Scott Tho­mas (63) und Ànge­la Moli­na (68) stah­len bei Miu Miu den jun­gen Models die Show, Isa­bel­la Ros­sel­li­ni (71) und Chris­ty Tur­ling­ton (55) bei Puc­ci. Jer­ry Hall (67) und Pat Cleve­land (73) in der Front Row bei Chloé, die unge­schmink­te Pame­la Ander­son (56) bei Vic­to­ria Beck­ham – das waren in die­ser Schau­en­run­de die Momen­te, die die Men­schen beweg­ten und viral gin­gen.

All das wur­de noch aus einem tie­fe­ren Grund als enorm wohl­tu­end emp­fun­den. Denn im Gegen­satz zu über­ge­wich­ti­gen Men­schen lei­den älte­re Men­schen in unse­rer Gesell­schaft der­zeit unter mehr als nur man­geln­der Sicht­bar­keit und nor­ma­ti­ven Schön­heits­idea­len. Im Gegen­satz zu über­ge­wich­ti­gen Men­schen ist für sie Dis­kri­mi­nie­rung auf­grund ihres Äuße­ren nur die Spit­ze des Eis­bergs. Wir haben in den letz­ten sechs Jah­ren eine his­to­risch bei­spiel­lo­se Auf­wer­tung von Jugend und damit ver­bun­den eine his­to­risch bei­spiel­lo­se Abwer­tung von Alter erlebt. Es hat sich ein Zeit­geist eta­bliert, in dem das „alt“ in „alte wei­ße Män­ner“ von allen ohne wei­te­ren Kon­text sofort als abwer­tend ver­stan­den wird. Das Attri­but „alt“ genügt, um sofort sämt­li­che nega­ti­ven Eigen­schaf­ten des Alters wie Starr­sinn, Igno­ranz und Ver­knö­che­rung zu unter­stel­len. Sämt­li­che posi­ti­ve Errun­gen­schaf­ten des Alters wie Rei­fe, Wis­sen und Erfah­rung hin­ge­gen wer­den mit Blick auf die dis­rup­ti­ve Dyna­mik der Digi­ta­li­sie­rung ein­fach annul­liert. Asyl­an­trä­ge von Digi­tal Immi­grants wer­den kate­go­risch abge­lehnt, da ihnen jede Inte­gra­ti­ons­fä­hig­keit von vorn­her­ein abge­spro­chen wird. Wie eine aktu­el­le Befra­gung bestä­tigt, sind mehr als die Hälf­te aller Leu­te der Ansicht, älte­re Men­schen trü­gen nicht ent­schei­dend zum gesell­schaft­li­chen Fort­schritt bei. Und ein Drit­tel aller Befrag­ten sind der Ansicht, älte­re Men­schen soll­ten wich­ti­ge und gesell­schaft­li­che Rol­len an jün­ge­re Men­schen abtre­ten.

Reflex­ar­tig wer­den im öffent­li­chen Dis­kurs die Älte­ren für sämt­li­che Pro­ble­me der Gegen­wart ver­ant­wort­lich gemacht. Egal ob Kli­ma­wan­del, Woh­nungs­not oder ver­rot­te­te Infra­struk­tur – die Gene­ra­tio­nen Boo­mer, X und Mil­len­ni­al – so das Nar­ra­tiv – haben mit einer für sie typi­schen Kom­bi­na­ti­on aus Fahr­läs­sig­keit, Gier und Ego­is­mus den Kar­ren ana­log in den Dreck gefah­ren. Und die acht­sa­me, idea­lis­ti­sche und empa­thi­sche Gene­ra­ti­on Z muss ihn nun digi­tal wie­der her­aus­zie­hen. Um ihr das umge­hend zu ermög­li­chen, hat man ange­fan­gen, das Wahl­al­ter auf 16 Jah­re her­ab­zu­set­zen, begin­nend mit den Euro­pa­wah­len die­ses Jahr. Kei­ner ande­ren nach­wach­sen­den Gene­ra­ti­on hat man jemals so viel zuge­traut, kei­ne Gene­ra­ti­on hat jemals so vie­le Vor­schuss­lor­bee­ren bekom­men.

Auch wenn die Gen‑Z für die Mode natürlich die Zukunft ist, so sind die Boomer immer noch ihre Gegenwart. Durch die Kombination aus großer Anzahl (Babyboom) und großer Kaufkraft (Schäfchen im Trockenen) haben sie nach wie vor das größte Umsatzpotenzial.

Inso­fern war die Ent­täu­schung vor­pro­gram­miert. Es meh­ren sich die Anzei­chen dafür, dass auf die Gen-Z-Eupho­rie der zurück­lie­gen­den Jah­re nun eine Gen-Z-Ernüch­te­rung folgt. Spä­tes­tens bei ihrem Ein­tritt in die Berufs­welt wer­den die gehyp­ten jun­gen Men­schen einem Rea­li­ty Check unter­zo­gen, und dabei ent­pup­pen sich die zwi­schen 1995 und 2010 Gebo­re­nen als eine Gene­ra­ti­on mit sehr aus­ge­präg­ten Stär­ken, aber auch unüber­seh­ba­ren Schwä­chen. Und so kön­nen die älte­ren Gene­ra­tio­nen schon allein dadurch wie­der glän­zen, dass sie die Defi­zi­te der jün­ge­ren kom­pen­sie­ren. Und das ist natür­lich Bal­sam für ihre gekränk­ten See­len.

Auch für die Mode waren die Gen-Z-ler in den letz­ten Jah­ren das Maß aller Din­ge. Sie gal­ten als das modi­sche Ora­kel. Sie stan­den im Fokus sämt­li­cher Ana­ly­sen. Ein Feh­ler. Denn auch wenn die Gene­ra­ti­on Z für die Mode natür­lich die Zukunft ist, so sind die Älte­ren, ins­be­son­de­re die Boo­mer, immer noch ihre Gegen­wart. Durch die Kom­bi­na­ti­on aus gro­ßer Anzahl (Baby­boom) und gro­ßer Kauf­kraft (Schäf­chen im Tro­cke­nen) haben sie für die Mode nach wie vor das mit Abstand größ­te Umsatz­po­ten­zi­al.

Trotz­dem wur­den die Kol­lek­tio­nen auf den Geschmack und die Bedürf­nis­se der Gen Z zuge­schnit­ten. Um ihr Shop­ping-Ver­hal­ten wur­den die Han­dels­kon­zep­te und ‑kanä­le her­um­ge­baut. Auf sie waren die Wer­be- und Mar­ke­ting­kam­pa­gnen aus­ge­rich­tet. Die Älte­ren (und „älter“ meint hier tat­säch­lich ein­mal nicht alt, son­dern älter als die Gene­ra­ti­on Z) waren in der Mode nicht nur beim Cas­ting unter­re­prä­sen­tiert. Sie wur­den von der Mode auch kul­tu­rell nicht mehr abge­holt. Aber auch hier schwingt das Pen­del nun zurück.

Wel­che kon­kre­ten Kon­se­quen­zen das für das Design, die Sor­ti­men­te und den Mar­ke­ting-Mix hat, wird im DMI Fashion Day Online und im DMI Trend Book für Herbst/Winter 25/26 anschau­lich dar­ge­stellt.

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Carl Til­les­sens Buch "Kon­sum" hat es in die Spie­gel-Best­sel­ler-Lis­te gebracht

Carl Til­les­sen ist gemein­sam mit Gerd Mül­­­­­­ler-Thom­kins Geschäfts­füh­rer des Deut­schen Mode-Ins­­­­­ti­­­­­­tuts. Sein Buch “Kon­sum” geht der Fra­ge nach, wie, wo und vor allem war­um wir kau­fen. www.carltillessen.com

Bei­trä­ge von Carl Til­les­sen

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4 Antworten zu “Schluss mit der Diskriminierung von Mehrheiten!

  1. Ich fin­de die­sen Arti­kel sehr rea­lis­tisch , vor­al­lem was die Ein­schät­zung der aktu­el­len Situa­ti­on angeht . Wir wis­sen noch nicht wie sich die Gene­ra­ti­on Z ent­wi­ckeln wird. Auch nicht wie sie sich in unse­re Gesell­schaft ein­bringt und wir dür­fen nicht ver­ges­sen, was die Baby­boo­mer alles erreicht haben , von denen auch die jün­ge­ren pro­fi­tie­ren. Vor­al­lem durch Enga­ge­ment und Leis­tung . Von daher gebührt ihnen auch Wert­schät­zung in allen Berei­chen auch der Mode. Hier geht sowie­so mehr Stil vor Alter.

  2. Ein Arti­kel den ich unbe­dingt lese muss­te, weil ich die Über­schrift sehr anspre­chend fand.
    ABER! hier ist doch eini­ges im Ungleich­ge­wicht.
    War­um fan­gen wir bei der "dop­pel­ten Eman­zi­pa­ti­on" denn nicht mal hier bei einem sol­chen Arti­kel an. War­um wer­den Models mit "nor­ma­len" Maßen als "Plus-Size Models" oder "Schau­fens­ter­pup­pen mit Run­dun­gen" als Plus-Size-Schau­­fens­­ter­­pup­­pen bezeich­net, war­um wird ange­ge­ben dass bei Asos das gewünsch­te Klei­dungs­stück "an einem dicke­ren Model" gese­hen wer­den kann. Mit aus­sa­gen wie "Die dicken Kund:innen dan­ken es ihnen, und die schlan­ken Kund:innen respek­tie­ren es" schürt der Autor mei­ner Mei­nung nach wei­ter­hin das fal­sche Bild des Frau­en­kör­pers in unse­rer Gesell­schaft und trägt nicht dazu bei, schon mit sei­nem Arti­kel die­ses Bild gera­de zu rücken. Ich tra­ge kei­ne Size 0 bin aber des­halb noch lan­ge nicht über­ge­wich­tig und wür­de mir ehr­lich wün­schen, dass eben auch das "dick" in unse­rem Sprach­ge­brauch etwas gewähl­ter ein­ge­setzt wer­den wür­de und wir end­lich dahin kom­men, dass Frau­en mit Brüs­ten und Hüf­ten, Ober­schen­keln und einem ordent­li­chen Hin­tern sich nicht als "dick" emp­fin­den müs­sen – son­dern als genau rich­tig!

  3. Ein wirk­lich guter Arti­kel. Nach über 30 Jah­ren in der Mode­bran­che habe ich mich auch immer wie­der gefragt, unse­re Ziel­grup­pe war Mit­tel­klas­se mit gut gefüll­ten Porte­mon­naies, was wir noch bes­ser machen kön­nen. Natür­lich wol­len wir immer ˋgut´ aus­se­hen. Aber es geht für mich heut­zu­ta­ge eher um das Wohl­füh­len. Das heißt nicht sich in Säcken zu klei­den, son­dern indi­vi­du­ell zu schau­en, was gibt es, passt es zu mir und passt es. Als ich mit mei­ner zier­li­chen Mut­ter zum Ein­kau­fen in unser loka­les Mode­ge­schäft gegan­gen bin, hat man uns sofort in die ˋBasler´-Ecke gelotst. Teu­er und lang­wei­lig. Ich habe dann für sie eini­ge sehr schö­ne Sachen bei Man­go gefun­den. Ein Bruch­teil vom Preis und wirk­lich schick. Mode soll­te sich nicht am Alter defi­nie­ren son­dern an den Vor­stel­lun­gen der Per­son.

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