Es ist wissenschaftlich erwiesen: Was wir schön finden und was nicht, wird uns nur zu einem ganz kleinen Teil von der Natur mitgegeben. Zu einem viel größeren Teil wird es geprägt, und zwar durch mere exposure. Auf Deutsch: Je öfter wir etwas sehen, desto schöner erscheint es uns.
Insofern hat die Modeindustrie tatsächlich einen erheblichen Einfluss auf das gängige Schönheitsideal, nämlich durch die Bilder, die sie kontinuierlich produziert und verbreitet. Sie ist wirklich mitverantwortlich dafür, ob Menschen sich in ihrem gesellschaftlichen Umfeld schön fühlen können oder hässlich fühlen müssen. Und dafür wird sie zunehmend zur Verantwortung gezogen.
Insbesondere wurde und wird der Modeindustrie immer wieder vorgeworfen, durch das Casting von extrem mageren Models ein ebenso unrealistisches wie ungesundes Körperbild zu etablieren und dadurch mit schuld daran zu sein, dass fast jede zweite Frau mit ihrer Figur unzufrieden ist und jeder fünfte Mensch essgestört. In den zurückliegenden Saisons hat die Modeindustrie begonnen, diese Verantwortung anzunehmen: Plus-Size Models auf den Covern von Zeitschriften wie Vogue und Cosmopolitan, genauso wie auf den Laufstegen von Chanel bis Balenciaga. Wäsche-Kampagnen von Fenty bis Calvin Klein zelebrieren den Sex-Appeal kurviger Frauen. In den Läden von Nike gibt es Plus-Size-Schaufensterpuppen, und in den Online-Shops von Good American oder Asos kann man auswählen, ob man die angebotene Kleidung an einem schlankeren oder an einem dickeren Model sehen will. Modeunternehmen zeigen, dass sie, nicht nur, aber eben auch Kleidung in großen Größen haben. Die dicken Kund:innen danken es ihnen, und die schlanken Kund:innen respektieren es.
Ermutigt durch diese positive Resonanz wagt sich die Mode nun an ein Casting, das nicht nur beim Gewicht eine größere Vielfalt zeigt, sondern auch beim Alter. Prada, Balmain, Armani, Versace, Dolce & Gabbana – in der letzten Schauenrunde zeigten mehr als 70 Prozent der Top-20-Marken ältere Models.
Endlich können Modeunternehmen sich dazu bekennen, diese absolut unumgänglichen Zielgruppen zu bedienen, ohne wie früher sofort auf diese Zielgruppe reduziert zu werden.
Bei all dem geht es um eine doppelte Emanzipation – eine Emanzipation auf der Seite der Modekund:innen und eine Emanzipation auf der Seite der Modeanbieter. In Deutschland sind mehr als die Hälfte aller Frauen und mehr als zwei Drittel aller Männer übergewichtig. Fast drei Viertel aller Menschen gehören älteren Generationen an. Endlich müssen sich all diese Menschen nicht mehr von der Mode ausgeschlossen fühlen. Die Mode bietet ihnen Bilder, in denen sie sich wiedererkennen, und Vorbilder, mit denen sie sich identifizieren können. Sie sind angesehen. Ihre Bedürfnisse werden gesehen. Ihre Schönheit wird gesehen. Das ist neu.
In Deutschland ist die absolute Mehrheit aller Menschen übergewichtig und/oder fortgeschrittenen Alters. Endlich können Modeunternehmen sich dazu bekennen, diese absolut unumgänglichen Zielgruppen zu bedienen, ohne wie früher sofort auf diese Zielgruppe reduziert zu werden. Sie können all diesen Menschen ein Angebot machen, ohne sofort als ältliche Übergrößen-Marke abgestempelt zu werden. Durch Bilder von älteren und übergewichtigen Menschen wird eine Marke nicht mehr uncool und unsexy. Ganz im Gegenteil. Auch das ist neu.
Die Resonanz auf die reiferen Models diese Saison übertraf nicht nur bei weitem die Erwartungen, sie übertraf auch bei weitem die Resonanz auf die Plus-Size-Models in den vorangegangenen Saisons. Die Auftritte von Kurvenstars wie Paloma Elsesser und Ashley Graham hatten den Marken Anerkennung eingebracht, die Auftritte von Modelveteraninnen wie Gina di Bernardo und Naomi Campbell hingegen brachten ihnen Szene
napplaus. Kristin Scott Thomas (63) und Àngela Molina (68) stahlen bei Miu Miu den jungen Models die Show, Isabella Rossellini (71) und Christy Turlington (55) bei Pucci. Jerry Hall (67) und Pat Cleveland (73) in der Front Row bei Chloé, die ungeschminkte Pamela Anderson (56) bei Victoria Beckham – das waren in dieser Schauenrunde die Momente, die die Menschen bewegten und viral gingen.
All das wurde noch aus einem tieferen Grund als enorm wohltuend empfunden. Denn im Gegensatz zu übergewichtigen Menschen leiden ältere Menschen in unserer Gesellschaft derzeit unter mehr als nur mangelnder Sichtbarkeit und normativen Schönheitsidealen. Im Gegensatz zu übergewichtigen Menschen ist für sie Diskriminierung aufgrund ihres Äußeren nur die Spitze des Eisbergs. Wir haben in den letzten sechs Jahren eine historisch beispiellose Aufwertung von Jugend und damit verbunden eine historisch beispiellose Abwertung von Alter erlebt. Es hat sich ein Zeitgeist etabliert, in dem das „alt“ in „alte weiße Männer“ von allen ohne weiteren Kontext sofort als abwertend verstanden wird. Das Attribut „alt“ genügt, um sofort sämtliche negativen Eigenschaften des Alters wie Starrsinn, Ignoranz und Verknöcherung zu unterstellen. Sämtliche positive Errungenschaften des Alters wie Reife, Wissen und Erfahrung hingegen werden mit Blick auf die disruptive Dynamik der Digitalisierung einfach annulliert. Asylanträge von Digital Immigrants werden kategorisch abgelehnt, da ihnen jede Integrationsfähigkeit von vornherein abgesprochen wird. Wie eine aktuelle Befragung bestätigt, sind mehr als die Hälfte aller Leute der Ansicht, ältere Menschen trügen nicht entscheidend zum gesellschaftlichen Fortschritt bei. Und ein Drittel aller Befragten sind der Ansicht, ältere Menschen sollten wichtige und gesellschaftliche Rollen an jüngere Menschen abtreten.
Reflexartig werden im öffentlichen Diskurs die Älteren für sämtliche Probleme der Gegenwart verantwortlich gemacht. Egal ob Klimawandel, Wohnungsnot oder verrottete Infrastruktur – die Generationen Boomer, X und Millennial – so das Narrativ – haben mit einer für sie typischen Kombination aus Fahrlässigkeit, Gier und Egoismus den Karren analog in den Dreck gefahren. Und die achtsame, idealistische und empathische Generation Z muss ihn nun digital wieder herausziehen. Um ihr das umgehend zu ermöglichen, hat man angefangen, das Wahlalter auf 16 Jahre herabzusetzen, beginnend mit den Europawahlen dieses Jahr. Keiner anderen nachwachsenden Generation hat man jemals so viel zugetraut, keine Generation hat jemals so viele Vorschusslorbeeren bekommen.
Auch wenn die Gen‑Z für die Mode natürlich die Zukunft ist, so sind die Boomer immer noch ihre Gegenwart. Durch die Kombination aus großer Anzahl (Babyboom) und großer Kaufkraft (Schäfchen im Trockenen) haben sie nach wie vor das größte Umsatzpotenzial.
Insofern war die Enttäuschung vorprogrammiert. Es mehren sich die Anzeichen dafür, dass auf die Gen-Z-Euphorie der zurückliegenden Jahre nun eine Gen-Z-Ernüchterung folgt. Spätestens bei ihrem Eintritt in die Berufswelt werden die gehypten jungen Menschen einem Reality Check unterzogen, und dabei entpuppen sich die zwischen 1995 und 2010 Geborenen als eine Generation mit sehr ausgeprägten Stärken, aber auch unübersehbaren Schwächen. Und so können die älteren Generationen schon allein dadurch wieder glänzen, dass sie die Defizite der jüngeren kompensieren. Und das ist natürlich Balsam für ihre gekränkten Seelen.
Auch für die Mode waren die Gen-Z-ler in den letzten Jahren das Maß aller Dinge. Sie galten als das modische Orakel. Sie standen im Fokus sämtlicher Analysen. Ein Fehler. Denn auch wenn die Generation Z für die Mode natürlich die Zukunft ist, so sind die Älteren, insbesondere die Boomer, immer noch ihre Gegenwart. Durch die Kombination aus großer Anzahl (Babyboom) und großer Kaufkraft (Schäfchen im Trockenen) haben sie für die Mode nach wie vor das mit Abstand größte Umsatzpotenzial.
Trotzdem wurden die Kollektionen auf den Geschmack und die Bedürfnisse der Gen Z zugeschnitten. Um ihr Shopping-Verhalten wurden die Handelskonzepte und ‑kanäle herumgebaut. Auf sie waren die Werbe- und Marketingkampagnen ausgerichtet. Die Älteren (und „älter“ meint hier tatsächlich einmal nicht alt, sondern älter als die Generation Z) waren in der Mode nicht nur beim Casting unterrepräsentiert. Sie wurden von der Mode auch kulturell nicht mehr abgeholt. Aber auch hier schwingt das Pendel nun zurück.
Welche konkreten Konsequenzen das für das Design, die Sortimente und den Marketing-Mix hat, wird im DMI Fashion Day Online und im DMI Trend Book für Herbst/Winter 25/26 anschaulich dargestellt.
Carl Tillessen ist gemeinsam mit Gerd Müller-Thomkins Geschäftsführer des Deutschen Mode-Instituts. Sein Buch “Konsum” geht der Frage nach, wie, wo und vor allem warum wir kaufen. www.carltillessen.com