
Die Handtasche aus Frankreich, die Schuhe aus Italien, der Regenmantel aus England, die Uhr aus der Schweiz und das Auto aus Deutschland. Ja. Aber Mode aus Deutschland? Das, so glaubte man lange, sei keine gute Story.
Und deshalb haben deutsche Modefirmen in Bezug auf Ihre Herkunft eigentlich immer geflunkert. Wir kennen sie alle, diese deutschen Marken mit den französisch, italienisch oder englisch klingenden Namen: René Lezard, Strenesse, Elégance, Esprit, Escada, Cinque, Tom Tailor, Betty Barclay, Gerry Weber … Wir kennen sie, weil sie einmal sehr erfolgreich waren. Und ihr anfänglicher Erfolg beruhte wohl tatsächlich zu einem nicht unerheblichen Teil darauf, dass sie sich als französische, italienische, englische oder amerikanische Marken ausgegeben hatten.
Jede dieser ehemals so erfolgreichen Marken musste inzwischen mindestens einmal Insolvenz anmelden. Leider. Selbstverständlich hat so etwas immer viele Gründe. Aber einer dieser vielen Gründe ist, dass durch die Globalisierung pseudo-französische, ‑italienische und ‑amerikanische Mode weitgehend ihre Existenzberechtigung verloren hat, weil original-französische, ‑italienische und ‑amerikanische Mode sowohl für Händler als auch für Endverbraucher allerorts problemlos verfügbar ist. Und ein anderer dieser vielen Gründe ist, dass die Digitalisierung eine Transparenz geschaffen hat, in der die falschen Identitäten der deutschen Firmen sofort auffliegen. Das Internet erweist sich als ein Lügendetektor, durch den unauthentische Marken-Stories sofort durchschaut und bestraft werden. So leistete das, was früher einmal zum Aufstieg dieser Unternehmen beigetragen hatte, jetzt einen Beitrag zu ihrem Niedergang.
Authentizität ist die Währung des Internetzeitalters. In aktuellen Umfragen sagen fast 90% aller Menschen, dass bei der Entscheidung, wo sie einkaufen, Authentizität für sie extrem wichtig ist. In der Mode wurde noch nie so viel von Authentizität geredet wie jetzt. Alle spüren den Druck, authentisch zu sein, aber kaum jemand weiß, wie man es wird.
Per Definition empfinden wir etwas dann als authentisch, wenn Schein und tatsächliches Sein übereinstimmen. Insofern ist Authentizität eine Form von Ehrlichkeit. Und Ehrlichkeit ist die Voraussetzung für Vertrauen. Und Vertrauen wiederum ist die Voraussetzung dafür, dass man uns etwas abkauft – im übertragenen wie im wörtlichen Sinn: Fast 80% der Generation Z sagen, dass es ihnen wichtiger als je zuvor ist, bei vertrauenswürdigen Marken zu kaufen. Fast die Hälfte aller Menschen sagt, dass sie für Produkte von Marken, denen sie vertraut, sogar bereit wäre, einen höheren Preis zu bezahlen. Und 67% sagen, dass sie Marken, denen sie vertrauen, treu bleiben und sie weiterempfehlen.
Während in Deutschland um 1980 alles beliebt war, was aus Italien kam, war in Italien alles beliebt, was aus den USA kam. Deshalb gab sich der italienische Schuhproduzent Della Valle als amerikanisches Traditionsunternehmen aus. Mit amerikanischen Promi-Fotos aus den 1950er und 1960er Jahren machte er die Menschheit glauben, die Loafer des frei erfundenen J.P. Tod seien in den USA längst ein Klassiker.
Doch mit Einführung des Internets flog auch hier der ganze Schwindel auf. Man machte das einzig Richtige, nämlich eine Kehrtwende: Della Valle, der den Kern seiner Marke ursprünglich als “a casual chic style directly inspired by the East Coast of the United States” definiert hatte, erklärte jetzt: “The Italian lifestyle is in our DNA, and in our group we believe in our DNA”. Seither zeigen die Tod’s‑Kampagnen statt archetypischer Amerikaner typische Italiener, die an typisch italienischen Orten (z.B. Piazza San Marco in Venedig) typisch italienische Dinge machen (z.B. Caffè trinken). Man bekennt sich also nicht nur zu seiner tatsächlichen Herkunft, man hat gelernt, sie sich zunutze zu machen. Und diese authentische Marken-Story beschert Della Valle nachhaltigen weltweiten Erfolg.
Als Heidemarie Jiline Sander Ende der 1960er Jahre ihre eigene Modemarke launchte, nannte sie sich einfach „Jil“ und hoffte, dass die Frage nach der Herkunft Ihrer Marke gar nicht aufkommen würde. Doch auch für sie erwies sich die Beantwortung dieser Frage als unausweichlich. Ihr war bewusst, dass Ihr Heimatland nicht gerade für wegweisendes Modedesign stand. Durch die Bauhaus-Bewegung hatte es sich aber für wegweisendes Design in anderen Bereichen qualifiziert. Also stellte Sander sich ganz bewusst in die Tradition des „Less is more“, das Gestalter wie Mies van der Rohe bereits vor ihr von Deutschland aus in die Welt getragen hatten. Als „Queen of Less“ schrieb sie die erste globale Erfolgsgeschichte einer deutschen Designermarke.
Sich zu seiner Herkunft zu bekennen, ist schon mal ein Schritt in Richtung Ehrlichkeit. Aus dieser Herkunft eine aalglatte PR-Story zu machen, ist aber noch keine Authentizität. Echte Authentizität erfordert den Mut, sich ungeschönt zu zeigen.
Boss war ursprünglich gezielt irreführend unter dem amerikanisch anmutenden Nachnamen des Firmengründers gestartet. Doch im Gegensatz zu so vielen anderen deutschen Marken, erkannte man in diesem Fall rechtzeitig, dass ehrlich am längsten währt. Deshalb bekennt man sich seit 1993 zu Hugo, dem typisch deutschen Vornamen des Firmengründers, und damit zum Deutschsein.
Auch bei Hugo Boss macht man sich dieses Deutschsein zunutze: Man lädt das eigene Image mit typisch deutschen Tugenden wie Beständigkeit, Präzision und Qualität auf. Man kleidet die weltweit bekannten und beliebten deutschen Fußballnationalspieler ein. Und man präsentiert sich mit einem Kampagnen-Shooting zwischen Barcelona-Chair, Glas, Stahl und grünem Marmor als Nachfolger Mies van der Rohes.
Sich zu seiner tatsächlichen Herkunft zu bekennen, ist schon mal ein Schritt in Richtung Ehrlichkeit. Aus dieser Herkunft eine aalglatte PR-Story zu machen, ist aber noch keine Authentizität. Echte Authentizität erfordert den Mut, sich ungeschönt zu zeigen. „We are entering the era of radical honesty“, titelte Vogue Business Mitte Juni. Nicht nur Influencer müssen unverstellt rüberkommen, um ihr Publikum zu erreichen und Produkte zu verkaufen. Auch Marken müssen sich jetzt in diesem Sinne authentisch zeigen, um Kundinnen und Kunden für sich zu gewinnen und zu halten. In Umfragen zeigt sich, dass insbesondere die jüngeren Genrationen Y und Z Marken bevorzugen, die „echt und gewachsen“ sind, im Gegensatz zu „perfekt und hübsch verpackt“.
Der amerikanische Modedesigner Willy Chavarria ist Sohn eines mexikanischen Einwanderers. Seine Kollektionen und ihre Inszenierungen geben uns einen Einblick in das prekäre und doch stolze Leben der Latinos in den USA. Die Faszination, die von dieser authentischen Underdog-Story ausgeht, ist so stark, dass Adidas unbedingt mit Chavarria kooperieren wollte und die gesamte A‑Prominenz der USA unbedingt seine Kleidung tragen will.
Die britische Modedesignerin Grace Wales Bonner ist die Tochter eines jamaikanischen Einwanderers. Sie übersetzt ihre persönlichen Wurzeln in eine Designsprache, in der sich, wie sie selbst erklärt, europäische Traditionen mit afro-atlantischem Geist mischen. Mit genau dieser Mischung verhalf sie dem Adidas Samba und damit der ganzen Marke Adidas zu einem furiosen Comeback.
Willy Chavarria und Grace Wales Bonner sind im Mainstream noch unbekannt. Ihre Geschichten sind keine imposanten oder glamourösen Geschichten. Aber es sind authentische Geschichten. Und deshalb berühren sie. Dass eine solche Geschichte einem Weltkonzern wie Adidas den entscheidenden Schub geben kann, zeigt, welches Potenzial Authentizität jetzt für die Mode hat. Was das konkret für Kollektionen und Kampagnen bedeutet, darum geht es unter anderem im DMI FASHION DAY ONLINE A/W 26/27.

Carl Tillessen ist Geschäftsführer des Deutschen Mode-Instituts. Sein Buch “Konsum” geht der Frage nach, wie, wo und vor allem warum wir kaufen. www.carltillessen.com