Die zur Eindämmung von Covid 19 notwendigen Maßnahmen waren so allumfassend, dass sie uns tatsächlich zwischenzeitlich sämtliche Lebensfreude geraubt haben. Viele von uns bleiben mit dem Gefühl zurück, zwei Jahre ihres Lebens verloren zu haben. Besonders intensiv empfinden das junge Menschen, die durch die Pandemie unwiederbringlich um einen Teil ihrer kostbaren Jugend betrogen wurden. Greta Thunberg spricht für ihre ganze Generation, wenn sie sagt: "Wir sind uns bewusster geworden, dass das Leben kurz ist.“
Auch die Professorin für Modepsychologie Carolyn Mair beobachtete während der Pandemie, „wie sich die Prioritäten der Menschen sehr schnell geändert haben. Die Verbraucher […] erkennen, dass das Leben kostbar ist, während sie die Dinge früher vielleicht als selbstverständlich hingenommen haben. Sie nutzen den Augenblick.“
Dass unsere Zeit auf Erden viel zu schnell verrinnt, diese Erkenntnis ist – genau wie das dazugehörige Symbol der Sanduhr – zwar so alt wie unsere Kultur. Durch die hinter uns liegende Pandemieerfahrung ist sie aber jetzt ganz besonders aktuell. Das bestätigt die Show von Courrèges, die uns mitnimmt in das Innere einer Sanduhr. Während die schönsten Mädchen in den aufregendsten Kleidern einen Kreis aus Sand umrunden, rinnt in der Mitte unablässig weiterer Sand herab und erinnert uns daran, dass all das – Jugend, Schönheit, Mode, Sexyness, das Leben insgesamt – vergänglich ist und jetzt sofort genossen werden will.
Die 20er Jahre nehmen Gestalt an, und es wird klar: Der Lifestyle of Health and Sustainability, der die letzten zwei Dekaden dominiert hat, ist an seinem Ende angelangt. Denn der L.O.H.A.S. ist das Gegenteil von Jetzt. Er ist das ewige Später. Wenn wir uns jetzt kasteien – so sein Versprechen – werden wir später einen gesunden Körper und eine gesunde Umwelt haben. Das ist die Karotte, die uns seit zwanzig Jahren an der Angel vor der Nase hängt und mit der man uns antreibt, Müll zu trennen, Diät zu halten, mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren, Yoga zu machen, Einkaufsbeutel dabei zu haben, weniger Fleisch zu essen und im Urlaub zu detoxen etc. etc. All das zu tun, ist und bleibt richtig. Aber es war zu lange zu viel – zu viel Verantwortungsbewusstsein, zu viel Vernunft, zu viel Disziplin. Wir sehnen uns nach Zügellosigkeit, brauchen Ventile, wollen ausbrechen, uns ausleben, über die Stränge schlagen. Die Angst, dass wir vor lauter An-Morgen-Denken versäumen, das Heute zu genießen, ist übermächtig geworden.
Vielleicht sind wir ja tatsächlich die „Last Generation“ und sollten lieber einfach noch einmal Spaß haben, bevor der Planet unbewohnbar wird
Politik – die ja per Definition eigentlich nur die Angelegenheiten des Gemeinwesens regeln soll – ist in den letzten Jahren nach und nach in sämtliche Bereiche unseres Privatlebens vorgedrungen: ob wir Fleisch essen, ob wir Auto fahren, wie oft wir fliegen, wo wir unsere Kleidung kaufen, wie wir unsere Kinder erziehen, wie wir sprechen, wie wir flirten, ob wir uns impfen lassen, ob wir zuhause bleiben, wie viel wir heizen, wie oft wir duschen… All das ist in den letzten Jahren nach und nach politisch geworden. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Es ist für unser Zusammenleben wichtig, dass wir auch weiterhin woke bleiben und uns politisch korrekt verhalten. Aber wir brauchen in unserem Leben auch Freiräume und Nischen, in denen es einmal nicht um Politik geht.
Auf einer Fridays4Future-Kundgebung im Oktober 2021 gönnte Greta Thunberg sich den Spaß, gemeinsam mit einem anderen Aktivisten auf der Bühne „Never Gonna Give You Up“ von Rick Astley vorzusingen, inklusive der ikonischen Dance Moves. Was das mit der Klimakrise zu tun hat? Nichts. Ausnahmsweise mal gar nichts. Deshalb ist es ja so erfrischend. „Wir sind letztlich einfach Teenager, die miteinander herumalbern, nicht nur die wütenden Kinder, als die uns die Medien oft darstellen.“ Als Tom Ford gefragt wurde, was die Inspiration hinter seiner letzten Kollektion sei, antwortete er einfach nur: “Fun. I was inspired by fun.“
Nicht nur der „Generation Fridays For Future“ kommen manchmal Zweifel, ob man mit dem ganzen verbissenen politischen Engagement auf dem richtigen Weg ist. Es beschleicht einen der Gedanke, dass der Tipping Point ohnehin überschritten wird und es insofern „For Future“ sowieso bereits zu spät ist. Vielleicht ist man ja tatsächlich die „Last Generation“ und sollte lieber einfach noch einmal Spaß haben, bevor der Planet unbewohnbar wird. Der grenzenlose Idealismus der letzten Jahre wird zunehmend zersetzt von Nihilismus oder zumindest von einem gesunden Maß an Hedonismus. Im neuen Kampagnen-Video von Isabel Marant sieht man, wie junge Menschen sich die verbotenen Einwegplastikbecher noch einmal bis zum Rand mit Rosé-Champagner füllen.
Eine ungesunde Lebensführung ist keine beschämende Soll-Ist-Abweichung mehr, sondern eine gekonnte Provokation
Obwohl unsere persönliche Gesundheit (Health) und die Gesundheit des Planeten (Sustainability) eigentlich gar nichts miteinander zu tun haben, hat der Lifestyle Of Health And Sustainability beides gedanklich ganz eng miteinander verknüpft – so eng, dass wir schon selbst nicht mehr wissen, ob wir im Biomarkt einkaufen, damit es uns gut geht, oder ob wir dort einkaufen, damit es der Umwelt gut geht. Der andauernde Druck zur geistigen, seelischen und körperlichen Selbstoptimierung, in Verbindung mit dem andauernden Druck, durch persönliche Opfer die Klimakrise abwenden zu sollen – einzeln kann man das aushalten. Aber in der Kombination ist es auf die Dauer eins zu viel. Und da die Menschen die Hoffnung, unseren Planeten retten zu können, doch noch nicht ganz aufgegeben haben (zwei Drittel sagen sogar, dass der Kampf gegen den Klimawandel für sie durch die Pandemie noch wichtiger geworden ist), pfeifen sie eben jetzt mal auf ihre Gesundheit.
Eine ungesunde Lebensführung ist plötzlich keine beschämende Soll-Ist-Abweichung mehr, sondern vielmehr eine gekonnte Provokation, die man selbstbewusst ausspielen kann. In der diesjährigen Gucci-Kampagne sieht man, wie Jared Leto im Restaurant sitzt und die Leute am Nachbartisch damit schockt, dass er sich den Zucker pur in den Mund schüttet. In einer Gesellschaft, in der bewusste Ernährung schon längst Mainstream ist, werden Produkte, bei denen die Lebensmittelampel auf Rot steht, zum effektvollen Tabubruch.
Welches Marketingpotential darin steckt, wurde Demna Gvasalia bewusst, als ein Foto von ihm mit einer Tüte Kartoffelchips für unverhältnismäßig große Aufregung sorgte. Gvasalia begriff sofort, machte die Idee serienreif und landete mit einer Balenciaga Clutch, die aussieht, als hätte man immer und überall eine angebrochene Chipstüte zur Hand, einen weiteren seiner brillanten Medien-Coups.
Mehr dazu, was der Vibe Shift für die Mode bedeutet und was auf den L.O.H.A.S. folgt, gibt es beim DMI FASHION DAY ONLINE.
Carl Tillessen ist gemeinsam mit Gerd Müller-Thomkins Geschäftsführer des Deutschen Mode-Instituts. Sein Buch “Konsum” geht der Frage nach, wie, wo und vor allem warum wir kaufen. www.carltillessen.com