Zara

Wo sind die Verkäufer geblieben?

Jürgen Wolf war im Urlaub shoppen. Und hatte bei Zara ein Einkaufserlebnis, das ihn nachdenklich stimmte.
Juergen wolf me myself and i
Jür­gen Wolf

Unlängst besuch­te ich, in einer spa­ni­schen Groß­stadt, zusam­men mit mei­ner Hol­den, eine Zara-Filia­le. Zu mei­nem Erstau­nen war der Laden enorm groß, wor­auf ich in der Sekun­de den Plan ver­fass­te, den Raum wie eine Mes­se­hal­le zu „zer­le­gen“, um auch wirk­lich alles begut­ach­ten zu kön­nen.  Ich teil­te den Laden also in Plan­qua­dra­te auf und schritt vor­an. Die Auf­ga­be bestand dar­in, für mei­ne Liebs­te etwas zum Anzie­hen zu fin­den. Als Mann der Mode, wur­de von mir nicht weni­ger als ein Magna cum Lau­de ver­langt.

Nach einem Drit­tel der Flä­che ver­ließ mich das Zutrau­en in mei­ne modi­schen Fähig­kei­ten, und in mir stieg kurz der Gedan­ke auf, mei­nen Lap­top zu holen und eine Excel-Lis­te anzu­le­gen, in die ich dann diver­se Trends ein­tra­gen konn­te, um dadurch den Weg in Rich­tung einer Erkennt­nis zu fin­den….  Quatsch… Wie hät­te ich die­se Flut von Ein­zel­tei­len sor­tie­ren und aus­wer­ten wol­len?

Was nun? Was tun?

Ich stand also in die­ser rie­si­gen Shop­ping-Are­na und war kläg­lich dar­an geschei­tert, ein modi­sches Sys­tem zu erken­nen. Es gab alles und davon noch Varia­tio­nen. Aber was pass­te hier zu was? Ich sehn­te mich nach der Sesam­stra­ße, in der immer alles sei­ne Ord­nung fand. Um die Situa­ti­on nicht kom­pli­zier­ter zu machen, als sie war, ent­schied ich mich für einen gezielt abge­setz­ten Hil­fe­ruf.

Was mir auf­fiel, waren vie­le jun­ge, gut­aus­se­hen­de Damen, in Blau geklei­det, die ihre Bah­nen durch den Raum zogen. Wie die Amei­sen. Sie lie­fen kreuz und quer, hat­ten aber offen­sicht­lich ein Ziel. Sie lie­fen meist mit Hän­den vol­ler Ware zu einem bestimm­ten Waren­trä­ger und fal­te­ten die­se akri­bisch. Nur dass im nächs­ten Moment eine Kun­din kam, das Teil hoch­hob, begut­ach­te­te und wie­der fal­len ließ. Kurz dar­auf kam die nächs­te Amei­se, und das Spiel begann von Neu­em.

„Ist es denn unüblich, nach Unterstützung beim Kauf zu fragen?“

Ich woll­te ger­ne eine der Damen anspre­chen und um ihre Hil­fe bit­ten. Bei nähe­rem Hin­schau­en ver­fiel ich aber in solch eine Andacht, dass ich das fein cho­reo­gra­fier­te Gewu­sel, die­ser hübsch anzu­se­hen­den blau­en Amei­sen, nicht durch mei­nen Hil­fe­ruf sabo­tie­ren woll­te. Ich erin­ner­te mich an mei­ne Kind­heit, wie ich als klei­ner Jun­ge, zu Stu­di­en­zwe­cken, in einen Amei­sen­hau­fen pin­kel­te und die­se fas­zi­nie­ren­de Ord­nung kurz­zei­tig voll­stän­dig außer Kraft setz­te.

Ich schick­te des­halb mei­nen Blick auf Wan­de­rung und bemerk­te zwei Damen: eine in Blau und eine ohne Blau, dafür aber mit einem iPad bewaff­net, mit des­sen Hil­fe sie der blau­en Amei­se  Instruk­tio­nen erteil­te. Das muss­te die Amei­sen­kö­ni­gin sein. Hier wür­de ich mei­nen Hil­fe­ruf abset­zen, in der Hoff­nung, dass die Köni­gin die Arbei­te­rin mit der Auf­ga­be des Ver­kau­fens ver­sieht.

Um es für den geneig­ten Leser ein­fach zu gestal­ten, wer­de ich die nach­fol­gen­den Dia­lo­ge in deut­scher Spra­che auf­schrei­ben, obwohl das Eng­lisch der Köni­gin nicht frei von einem gewis­sen Humor war.

„Die Damen, man ver­zei­he mir die Stö­rung, aber wäre es ihnen mög­lich, mir ihre drei Top-Tei­le zu zei­gen?“

Bei­de hoben ihre Köp­fe und schau­ten mich an. Die Amei­se zuerst mich und dann ihre Köni­gin. Die­se war außer­or­dent­lich hübsch und hat­te gro­ße, dunk­le Augen. Nach Been­di­gung mei­nes Sat­zes wur­den sie so groß, dass ich das Gefühl hat­te, aus­ge­streckt dar­in ste­hen zu kön­nen. „Wie bit­te?“

Ich wie­der­hol­te mei­ne Fra­ge und schob hin­ter­her: „Ist es denn unüb­lich, nach Unter­stüt­zung beim Kauf zu fra­gen?“

Ich will nicht behaup­ten, dass ihre Augen noch grö­ßer wur­den, aber der Aus­druck der Ver­wir­rung nahm deut­lich zu. „Wir bie­ten kein Per­so­nal Shop­ping bei Zara an!“

Aha! Dar­über hat­te ich mir im Vor­feld zu wenig Gedan­ken gemacht. Cura­ted Shop­ping ist wohl auf dem Weg ins Inter­net. Jetzt war ich ver­wirrt. „Nun. Es stellt sich so dar, dass wir ger­ne meh­re­re Tei­le kau­fen wür­den, auch vie­le Tei­le sahen, qua­si alle und nun, man sehe es mir nach, den Über­blick ver­lo­ren haben. Was, bit­te schön, könn­te denn zu ihr pas­sen?“ Wor­auf ich mei­ne rech­te Hand, mit der Innen­sei­te nach oben, zu mei­ner Part­ne­rin führ­te.

„Ich liebe Mode und ich liebe meinen Beruf!“

Die gro­ßen Augen ver­lie­ßen mich und such­ten sich einen neu­en Halt. Plötz­lich kamen gro­ße, wei­ße Zäh­ne zum Vor­schein und die Mimik der Amei­sen­kö­ni­gin form­te ein Lächeln. Jetzt lächel­ten wir alle drei. Sie klemm­te das iPad unter die Ach­seln und führ­te uns zu einem der unzäh­li­gen Waren­trä­ger. Dort ange­kom­men zeig­te sie uns ein Kleid, nahm es vom Stän­der, schritt mit uns hin­über zu den Schu­hen und zog ein paar Pla­teau-San­da­len aus dem Regal. Das pass­te schon mal zusam­men und ich wuss­te, das rich­ti­ge getan zu haben. Nur spre­chen­den Men­schen kann gehol­fen wer­den.

Sie kam mit einem brau­nen Kleid, gab es mir in die Hand und zeig­te mir auf ihrem iPad das Bild einer Moden­schau: „Chloe!“, sag­te sie nur und strahl­te. Tat­säch­lich. Was ich in der Hand hat­te und was auf dem Bild­schirm zu sehen war hat­te eine gewis­se Ähn­lich­keit. Danach kam sie mit einem wei­ßen Kleid zurück, tipp­te erneut und sie­he da, ich ahn­te es schon, weil Valen­ti­no auf der Sei­te zu lesen war: „Valen­ti­no!“. Alle guten Din­ge sind Drei. Sie kam mit einem wei­ßen Jackett. Da ich lern­fä­hig bin, nahm ich es ihr wie­der ab und neig­te schon mei­nen Kopf in Rich­tung Tablett Com­pu­ter: „Gwy­nett Palt­row, bei der Oscar-Ver­lei­hung!“ Aha! Das ver­stand selbst ich. Dann muss­te es ja gut sein.

Nach weni­gen Minu­ten hat­te sie für uns ein hal­bes Dut­zend Tei­le gesam­melt, die ich ihr, freund­lich wie ich bin, alle sofort abnahm. Von der Last befreit pick­te sie noch ein paar Arti­kel aus diver­sen Win­keln des Ladens zusam­men, wäh­rend wir auf dem Weg in Rich­tung der Umklei­de­ka­bi­nen waren. Dort beschäf­tig­ten sich diver­se Amei­sen mit dem Sor­tie­ren der nicht gekauf­ten Tei­le und ver­teil­ten gro­ße Num­mern­schil­der an die zur Anpro­be berei­ten Kun­din­nen. Ich war mitt­ler­wei­le mit deut­lich mehr als fünf Tei­len bela­den, wofür es kein Schild mehr gab. Bei 5 war Schluss. Schlecht! Ich sah schon wie­der das Bild des Amei­sen­hau­fens aus mei­ner Jugend vor mei­nem geis­ti­gen Auge und wuss­te, was pas­sie­ren könn­te. Es kam anders. Die Köni­gin rat­ter­te einen spa­ni­schen Satz in Rich­tung Arbei­te­rin­nen, wor­auf alle lächel­ten. Ich auch.

Von da an kamen wir nicht mehr aus der Umklei­de­ka­bi­ne her­aus. Höchs­tes noch, um den lan­gen Gang, bis zum Spie­gel an sei­nem Ende, zu durch­schrei­ten, weil die Arran­ge­ments aus der Enge der Kabi­ne befreit wer­den woll­ten. Alle paar Minu­ten kam die Köni­gin vor­bei und brach­te neue Tei­le. Ich ver­such­te den Über­blick in der Kabi­ne zu behal­ten und ent­sorg­te jene Tei­le bei den Sor­tie­re­rin­nen, die es nicht in die nähe­re Aus­wahl geschafft hat­ten. Ich zeig­te ihnen jedes Mal mein dank­bars­tes Lächeln für ihre wert­vol­le Arbeit, wor­auf sie auch lächel­ten. Ich lächel­te oft in die­sen geschätz­ten zwei Stun­den bei Zara.

Bei einem neu­er­li­chen Besuch der Köni­gin, die­ses Mal ohne Über­brin­gung von modi­schem Nach­schub, ergab es sich, dass ich mich für ihre gar auf­op­fern­de Mühe bedank­te. Was sie dar­auf ant­wor­te­te, ließ mich nach­denk­lich wer­den: „Ich lie­be Mode und ich lie­be mei­nen Beruf!“

Heute weiß jeder alles und vieles besser. Oder doch nicht?

In neu­en Gedan­ken ver­lo­ren, die von mir zu Ende gedacht wer­den woll­ten, tausch­ten wir eini­ge Höf­lich­keits­flos­keln aus und sie ver­schwand wie­der in der Men­ge der Kun­din­nen, die den Gang bevöl­ker­ten. Lächelnd und offen­sicht­lich glück­lich, uns Unwis­sen­den hel­fen zu kön­nen.

Hel­fen. Für­wahr. Das tat sie. Wir ver­lie­ßen den Laden mit Waren im Wert von 500 Euro. Ohne ihre Hil­fe wären wir gegan­gen, ohne auch nur einen ein­zi­gen Arti­kel zu kau­fen.

„Darf ich ihnen hel­fen?“ War das nicht die Fra­ge, die ein Ver­käu­fer ger­ne stell­te? Frü­her. Gibt es heu­te über­haupt noch Ver­käu­fer? Wenn ich mei­ne Kin­der dazu befra­ge, wer­den sie sagen: Nein. Klar. Für was brau­che ich einen Ver­käu­fer, wenn der Kun­de im Inter­net aus­ge­wählt hat, was er kau­fen will und jetzt nur noch auf der Suche nach dem Laden ist, der die­sen Arti­kel auch im Ange­bot hat. Der eine oder ande­re wür­de ihn ger­ne anpro­bie­ren, um z.B. etwas über die Hap­tik zu erfah­ren oder schlicht ger­ne sehen, wie er passt. Für was brau­che ich da einen Ver­käu­fer. Da reicht ein Info-Desk.

Ich war sel­ber mal ein Ver­käu­fer. Damals im Surf-Shop, Ende der 70er, Anfang der 80er, als vie­les sei­nen Anfang nahm und eine Idee der Ver­bes­se­rung die Nächs­te jag­te. Damals war es schwie­rig, den Über­blick zu behal­ten. Ver­käu­fer waren wich­tig. Zu die­ser Zeit hol­ten sich die grö­ße­ren Sport­händ­ler für ihre Ski-Abtei­lung ger­ne einen öster­rei­chi­schen Ver­käu­fer, der, bewaff­net mit sei­nem Akzent, die Sicher­heit ver­strahl­te, nach der die Kun­den sich sehn­ten. Wenn der Mann aus den Ber­gen es nicht wuss­te, wer dann?

Heu­te weiß jeder alles und vie­les bes­ser. Oder doch nicht?

Stil kann man sich nicht kau­fen. Wer hat Stil und wer hat kei­nen? Manch einer denkt, er hat ihn gepach­tet, zeigt mit sei­nem modi­schen Auf­tritt aller­dings, dass er sich geirrt hat. Wie vie­le haben Stil? Wie vie­le haben kei­nen?

Schwer zu beur­tei­len… Da müss­te des Öfte­ren ein­fach mal ein Fach­mann her. Jemand, der einem sei­ne Hil­fe anbie­tet.

Die Köni­gin hat­te mir, wohl aus Ver­se­hen und ohne nach­zu­den­ken, die Schwä­che ihres Rei­ches offen­bart. Ihrer Armee fehl­te die Waf­fen­gat­tung der Per­so­nal Shop­per. Man glaubt es kaum. Für jeden Furz, der der Mensch­heit quer sitzt, gibt es Bera­ter, Trai­ner, Coa­ches und der­lei Heils­brin­ger mehr. Wer aber hilft den armen Men­schen, die in der sint­flut­ar­ti­gen Mas­se von Ein­zel­tei­len dem Ertrin­ken nahe sind und nach einer ret­ten­den Hand suchen? Ent­mu­tigt den Laden ver­las­sen, oder noch viel schlim­mer, ihn am Ende gar nicht mehr auf­su­chen.

Naja. Das ist jetzt kei­ne schwe­re Fra­ge und von daher ist die Ant­wort leicht: Ein Mensch, der sich mit Mode aus­kennt und der fähig ist sich auf den Rat­su­chen­den men­tal ein­zu­stel­len.

Wer nichts mehr zu erzählen hat, dem bleibt nur der Preis. Wie hieß es an solchen Stellen bei Asterix? Morituri te salutant!

Jetzt wird es doch wie­der schwer. Den fin­det man näm­lich nicht so ein­fach. Jeder weiß es: mit Speck fängt man Mäu­se. Und mit Geld einen Mit­ar­bei­ter. Da hilft der schöns­te Arbeits­platz nichts. Ohne die rich­ti­ge Ent­loh­nung wird es schwie­rig. Es hilft auch wenig, den bes­ten Archi­tek­ten zu suchen. Die Guten sind sel­ten bil­lig. Sich einen Prunk­bau zu errich­ten und die­sen dann mit Per­so­nal zu bestü­cken, dem man schon von Wei­tem ansieht, dass aus­ge­rech­net dar­an gespart wur­de.  Da taucht jeder Kun­de mit einem „Nein dan­ke!“ weg, bevor die ers­te Fra­ge gestellt wur­de.

Die katho­li­sche Kir­che ist ja nicht des­halb so erfolg­reich gewor­den, weil sie Pracht­tem­pel erbau­en ließ, son­dern weil dort Pre­di­ger ihr Werk voll­brach­ten. Die wur­den ger­ne auf­ge­sucht, wenn die Ori­en­tie­rung auf der Stre­cke blieb. Mit einer guten Mischung aus Geschich­ten und Lebens­hil­fe wur­de dann auch so schon manch einer froh. Mit­tels einer ähn­li­chen Metho­de füll­te der Come­di­an Mario Barth gan­ze Fuß­ball­sta­di­en (!!!???) und der lus­ti­ge Boh­len klei­de­te mit Camp David Deutsch­lands Dach­de­cker, Fuhr­un­ter­neh­mer und Metz­ger ein.

Das ist auch des Ver­käu­fers Hand­werk­zeug: Geschich­ten, Fak­ten und die Fähig­keit ein­zu­schät­zen, was der Kun­de gera­de „nötig“ hat. Wel­ches Defi­zit es aus­zu­glei­chen gilt (kör­per­li­cher und geis­ti­ger Art). Dafür muss aber der Chef auch Mar­ken ein­kau­fen, die dem Ver­käu­fer „Nah­rung“ bie­ten. Ohne Geschich­ten steht selbst Mario Barth auf ver­lo­re­nem Pos­ten. Wer nichts mehr zu erzäh­len hat, dem bleibt nur der Preis. Wie hieß es an sol­chen Stel­len bei Aste­rix? Mori­tu­ri te salu­tant!

In der Fach­zeit­schrift Der Han­del, las ich mal einen Arti­kel über eine deut­sche Händ­ler­de­le­ga­ti­on, die zu einer Fort­bil­dung nach New York reis­te. Dort erfuh­ren sie bei einem gro­ßen Kauf­haus­be­trei­ber, dass sei­ne bes­ten Ver­käu­fer 6‑stellige Beträ­ge ver­die­nen. Ein Pro­vi­si­ons­mo­dell macht es mög­lich.

Sogar die Selbst­be­die­nungs­le­gen­de McDo­nalds voll­zog eine Ände­rung ihres Sys­tems und bie­tet in manch neu­en Filia­len eine Tisch­be­die­nung ein.  "Unser Ziel ist es, Kom­ple­xi­tät aus dem Ange­bot zu neh­men…“, ließ der Deutsch­land-Chef wis­sen.

Nichts ande­res tat die Amei­sen­kö­ni­gin bei Zara auch.

Jür­gen Wolf ist Grün­der und Mas­ter­mind von Home­boy. Er hob das Ska­­­­­­te­­­­­­wear-Label 1988 aus der Tau­fe und gehör­te damit zu den Stree­­­­­t­­­­­­wear-Pio­­­­­­nie­­­­­­ren in Deutsch­land. In den 90er Jah­ren erleb­te Home­boy einen rasan­ten Auf­stieg, in den ver­gan­ge­ne­nen Jah­ren war es fak­tisch vom Markt ver­schwun­den. 2015 hat Wolf die Mar­ke wie­der­be­lebt. Und star­tet mit sei­nem Sohn Juli­an damit durch.

Bei­trä­ge von Jür­gen Wolf 

Schlagworte: