Der Harvard Business Manager fragt in einem großen Artikel seiner aktuellen Ausgabe, ob Amazon Freund oder Fressfeind ist. Gap Fashion hat das für sich beantwortet und kürzlich angekündigt, seine Mode auch beim Primus der digitalen Gemischtwaren-Stores zu verkaufen. Sie ist damit bei weitem nicht die erste oder einzige Marke aus dem Reich des Mode-Mainstreams, die sich auf die Plattform traut. Auch Levi’s und Calvin Klein sind neben vielen anderen beim Giganten aus Seattle gelistet, während sich andere – wie Nike oder Birkenstock – medienwirksam verabschiedet haben.
Wie halten wir es als Marke mit Plattformen? Das wird schon immer leidenschaftlich diskutiert. Der Blick auf ein paar Realitäten hilft bei der Entwicklung einer eigenen Sicht und Strategie.
Realität 1: Markenpflege und Kundengewinnung vs. Absatz. Ob eine Aktivität auf einer Plattform sinnvoll ist, hängt von den Zielen ab – Markenpflege und Kundengewinnung sollten aber nicht zu weit oben auf der Liste stehen. Das Geschäft auf den großen Plattformen läuft in der Regel fast ausschließlich über die Onsite-Suche und die Navigation und damit über Produkt-Listen als Experience. Das ist ein ähnlich effektives Brand-Building wie eine Suchergebnis-Seite von Google. Marken brauchen zur Pflege ihrer Margen-begründenden Magie ihren eigenen Frame. Und so sehr sich Plattformen mit Marken-Shops und dezidierten Landingpages für Brands auch bemühen – eine Multilabel-Plattform wird nie einen eigenen Marken-Frame ersetzen können.
Auch werden keine Kundendaten generiert, mit denen man eigenes Direktgeschäft initiieren kann. Die Kontakte gehören der Plattform, diese haben häufig über viele Jahre in den Aufbau des Kundenstamms und die Reichweite investiert. Der Zugang wird an Verkäufer auf der Plattform vermietet und über Umsatzprovision und Werbekosten monetarisiert. Der Anteil an Plattform-Käufern, die im Nachgang vor lauter Produktbegeisterung den D2C-Shop der Marke ansteuern, ist gering. Und bei Händlern als Plattform-Verkäufer noch geringer. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Handelsplattformen sind sehr effektive Absatz- und Werbe-Kanäle mit massiver Reichweite und Möglichkeiten zur minimalinvasiven Internationalisierung. Dafür wurden sie konzipiert, und darin liegt das Rational, auf ihnen aktiv zu sein.
Realität 2: Volumen vs. Produktivität. Mit seinem geschätzten weltweiten Bekleidungsumsatz von 40 bis 50 Mrd. Euro ist Amazon (einer) der Marktführer im Mode-Segment. Das beachtliche Volumen verteilt sich jedoch über beachtlich viele Marken und Händler, so dass die durchschnittlichen Umsätze je Anbieter relativ überschaubar sind. Von den insgesamt ca. 45.000 Anbietern auf Amazon.de schafften es letztes Jahr zum Beispiel lediglich 900 auf mehr als eine Million Euro Umsatz. Zugleich ist der Aufwand, auf einer Plattform erfolgreich zu operieren, nicht unerheblich. Nicht selten sind deshalb selbst bei größeren Marken die Umsätze kleiner und die Kosten größer als vorher gedacht. Daher ist Realismus gefragt, und die Auswahl einer Plattform sollte neben operativen Themen vor allem eine bodenständige Umsatz- und Deckungsbeitrags-Simulation beinhalten.
Realität 3: Preissensitivität vs. Deckungsbeitrag. Die Preissensitivität auf Plattformen insgesamt und vor allem auf den führenden Gemischtwaren-Plattformen ist groß. Das bedeutet, dass man ohne erhebliche Abschriften kaum Sichtbarkeit in den alles entscheidenden Suchergebnissen bekommt. Wer an der Discount-Schraube dreht, spürt sofort das Volumenpotenzial, aber eben auch den Effekt auf die Marge. Während auf den großen Plattformen Altware mit durchgehend hohen Rabatten gut funktioniert, schwingen spezialisierte Mode-Plattformen im Takt der Saisons mit Neuware und eher punktuellen Promotionen und Aktionen. Auch das sollte bei der Auswahl der Plattform berücksichtigt werden.
Da keine eigene Kundenbeziehung aufgebaut wird, sollte jede Transaktion isoliert auf DBII-Ebene wirtschaftlich sein. Plattformen haben zeitgleich aber in der Regel deutlich höhere Retourenquoten als Stand-Alone-Shops, und die Warenkörbe beinhalten je Verkäufer im Schnitt weniger als 1,5 Artikel. Das hat erhebliche Auswirkungen auf die Selektion und verdeutlicht, wie wichtig das Thema Steuerung auf Plattformen ist.
Realität 4: Umfeld vs. FOMO. Die User-Experience auf den großen Everything-Store-Plattformen ist oft denkbar weit von den Anforderungen einer Modemarke entfernt, und die Erlebnisqualität auf den Plattformen sinkt fast naturgemäß mit steigenden Marktplatz-Anteilen. Das ist ein Problem der meisten universellen Plattformen und damit Teil der grundsätzlichen Format-Frage. Bei der Suche nach passfähigen Plattformen darf man indes genauso sensibel sein wie früher bei der Auswahl stationärer Lagen oder von Shopping Centern. Und FOMO, fear of missing out, ist ein Reflex, den es sich zu kontrollieren lohnt. Die Aktivität anderer korreliert nicht zwangsläufig mit Sinnhaftigkeit.
Realität 5: Image vs. Selbstbild. Ein Blick in Google Trends ist ein unkomplizierter Weg, ein Gefühl für die Relevanz der eigenen Marke zu bekommen. Das ist für viele ein frustrierendes Erlebnis, gibt es doch oft bemerkenswerte Unterschiede zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung. Die selektiv-sensiblen Antennen einiger Mainstream-Hersteller sehen in den großen, offenen Plattformen eher Anbieter für Bekleidung denn für Mode und fremdeln aus ihrem Selbstbild als Fashion-Marke heraus. So nachvollziehbar das sein mag, ist es oftmals jedoch eine von der Realität etwas entrückte Selbsterhöhung und Entkopplung von ihren Konsument:innen. Wieviel näher man in Wirklichkeit einander ist, sieht man an Amazons Bekleidungsumsätzen – auch mit den Peer-Marken.
Realität 6: Marken-Schutz durch Partizipation: Die teilweise unkontrollierte (Über-)Distribution über Wholesale führt dazu, dass die eigene Marke wahrscheinlich schon heute auf allen denkbaren Plattformen verkauft wird – nur eben von anderen und nicht selten in fragwürdiger Qualität. Wer seine Marke auf Amazon nicht registriert, kann sie auch nicht schützen. Und wer selbst nicht präsent ist, überlässt den Verwertern und anderem Wildwuchs die Bühne. Das hilft weder dem Umsatz noch dem Image.
Einer defizitären GuV oder dem Abbau von Überhängen kann die Plattform-Präsenz dienlich sein. Einem verblassten Marken-Stern wird man indes zu keiner neuen Strahlkraft verhelfen.
Fazit: So sehr man auf einfache Antworten hofft, so wenig gibt es eine Blaupause für die richtige Strategie. Ein diversifizierter Ansatz, der die Stärken der einzelnen Formate kombiniert und miteinander synchronisiert, wird in aller Regel schwer zu schlagen sein:
- Direct-to-Consumer für Marken-Aufbau und ‑Pflege bei voller Kontrolle und Marge
- Spezialisierte Fashion-Plattformen für Absatz und Deckungsbeiträge und ohne Preiswettbewerb mit dem eigenem D2C
- Gemischtwaren-Plattformen zur Marken-schützenden Präsenz für selektive Saisonware und ohne Preiswettbewerb mit eigenem D2C
- Gemischtwaren-Plattformen für Überhänge und Restanten ggf. über Dritte, das eigene D2C für Schwarzpreise
- In Zeiten, in denen jeder noch so kleine Wholesale-Partner auch auf Plattformen aktiv ist: Überarbeitung der Vertriebsstrategie und Verträge zur Reduzierung der Kannibalisierung und markenschädigenden Überdistribution
- Riskante Abhängigkeiten vermeiden heißt Umsätze und Service-Verträge mit Augenmaß verteilen
Ob Gaps Entscheidung richtig ist, hängt also von der aktuellen Problemlage und damit der Zielsetzung ab. Einer defizitären GuV oder dem Abbau von Überhängen kann das dienlich sein. Einem verblassten Marken-Stern wird man über den Absatz auf einer großen Gemischtwaren-Plattform indes zu keiner neuen Strahlkraft verhelfen. Die Supermarkt-Unterhosen hängen Calvin Klein heute, Jahre später noch an.
Stefan Wenzel ist seit mehr als 20 Jahren im Digitalen Handel und einer der profiliertesten Köpfe der Branche. Seine Vita beinhaltet unter anderem Stationen als Geschäftsführer für Unternehmen wie Ebay, brand4friends, Otto, Mexx und Tom Tailor Digital. Stefan Wenzel unterstützt Firmen, Gründer und Geschäftsführer als digitaler Beirat, ist regelmäßiger Sprecher auf Fachkonferenzen, Interview- und Podcast-Gast. www.stefanwenzel.com