Wer ständig steigende Pro-Kopf-Umsätze erwartet, hat aktuell eventuell etwas die Bodenhaftung verloren. Das monatliche Einkommen in Deutschland liegt dieses Jahr laut GfK nach Steuern im Schnitt bei unter 2200 Euro, die Verbraucherpreise sind im Vergleich zu 2020 um fast 20 Prozent gestiegen. Da bleibt schlicht weniger im ohnehin oft engen Portemonnaie. Nimmt man die globale Nachrichtenlage hinzu, ist es nicht verwunderlich, dass zudem die Konsumlaune auf dem gefühlten Nullpunkt angelangt ist. Der Index ist seit Jahresbeginn zweistellig negativ und tendiert mit aktuell ‑28 Punkten weiter abwärts. Die dadurch bei Kunden ausgelöste „Kauf-Triage“ gewinnt, wer entweder den günstigsten Preis für Dinge des täglichen Bedarfs hat oder solche mit hohem Belohnungswert anbietet. Folglich performen Discount-Konzepte am einen Ende des Spektrums, Reisen, Essen und je nach Geldbeutel gediegener Luxus am anderen.
Dass all das entsprechende Auswirkungen auf den Einzelhandel hat, ist klar. Ebenso klar ist, dass gestiegene Zinsen und der aktuelle E‑Commerce-Blues am Kapitalmarkt die Finanzierung von Innovation und Wachstum deutlich erschwert haben. Beides sind sich ergänzende und zum Teil bedingende, aber unterschiedliche Themen.
Weniger klar scheint, ob der E‑Commerce an sich in einer Krise steckt. Im Durchschnitt könnte man dies vielleicht vermuten, wenngleich auch 2023 das Spektrum von Geschäftsaufgaben bis hin zu zweistelligem Wachstum, z.B. auf dem Marktplatz des ehemaligen Buchhändlers aus Seattle, reicht. Wie wenig der errechnete Mittelwert aber weiterhilft, weiß jeder, der im Durchschnitt einen theoretischen Volltreffer gelandet, in der Realität aber im Wechsel an beiden Seiten des Ziels gleich weit vorbeigeschossen hat.
Dass sich der Online-Handel im zweiten Jahr nach der Corona-Explosion in einer neuen Phase befindet, ist unstrittig, hilft aber als Allgemeinplatz nicht weiter. Es ist keine pauschale Format-Krise, wenn der Pro-Kopf Umsatz eines 10 Milliarden großen Onliners in einem schwierigen Jahr um 3% zurückgeht oder sich zu chinesischen Online-Angeboten verschiebt. Der Abgesang ist nicht nur inhaltlich falsch, er revitalisiert zudem den digitalen Vor-Corona-Winterschlaf vieler Stationärer. Damit wiederum erweist er der Handelsbranche, die nicht zuletzt auch wegen verschlafener Digitalisierung und überschaubarer Innovationskraft dort steht, wo sie steht, einen echten Bärendienst.
Lieber Mono-Exzellenz statt
Omni-Mittelmaß
Die folgende Heuristik hilft, jenseits von Pauschalurteilen die eigene Zukunftsfähigkeit oder die der Wettbewerber zu überprüfen. Und sie hilft zu verstehen, warum es eine Strategie ohne digitalen Anker ungeachtet einzelner Erfolgs- oder Misserfolgsgeschichten schwer haben wird:
Kundenrelevanz: Zunächst geht es um die Proposition und deren Kundenrelevanz als Achillesferse eines jeden Geschäftsmodells. Relevanz entsteht vor allem durch den Grad empfundener Belohnung, und das sollte die konzeptionelle Grundlage jedes Modells sein. Belohnung kann rational über den besten Preis (Discount, Value) oder die höchste Bequemlichkeit (Convenience, Service) entstehen, oder emotional über Bedeutung (Marke, Projektion). Je angespannter die Konsumsituation, je stärker die "Kauf-Triage”, desto wichtiger wird der Faktor Belohnung. So wesentlich die Frage nach der Relevanz der Proposition ist, so selten kann sie klar beantwortet werden.
Medium: Dass der Kanal egal ist, stimmt nicht. Das Smartphone ist der dominante Aufenthaltsort der allermeisten Menschen, wir verbringen einen großen Teil unserer Zeit mit Social Media, Content und Gaming. Tendenz steigend. Wer dort nicht stattfindet, findet überhaupt nicht statt. Wer aber an den digitalen Aufenthaltsorten keine Relevanz und Exzellenz hat oder Kunden gar über Medienbrüche hinweg begeistern will, erhöht seine Ineffizienz und die Gefahr des Sichtbarkeits- und letztlich Bedeutungsverlustes. Omnichannel als kleinster gemeinsamer System-Nenner ist oft weit entfernt von echtem Kundenmehrwert. Es geht aber um Wirksamkeit. Wer konsequent mit 20 Prozent Aufwand 80 Prozent Wirkung erzielt, wird vorne mitspielen. Weniger ist also das neue Mehr, Effektivität die neue Effizienz. Oder mit anderen Worten: lieber Mono-Exzellenz statt Omni-Mittelmaß.
Kostenstruktur: Kapitalbedarf und Kapitaleffizienz hängen natürlich nicht nur vom Wachstumsanspruch und der eigenen Kapitalausstattung ab. Je höher der Anteil klassischer Komponenten wie Bewirtschaftung (eigene Bestände statt Fremdbestände), lange Vororder-Zyklen mit entsprechender Kapitalbindung, Retourenquoten und Überhangrisiken, desto ineffizienter ist in der Regel das gesamte Modell. Zum Risiko werden zudem hohe Fixkostenanteile, vor allem in Zeiten volatiler oder gar rückläufiger Umsätze. Dass Fixkosten nicht nur stationär ein Faktor sind, haben die Entlassungswellen der Tech-Konzerne im zurückliegenden Jahr gezeigt. Dennoch ist es formatimmanent, dass die Ladenmiete unabhängig von Traffic und Umsatz anfällt und manchmal ein Drittel des stationären Gesamtumsatzes ausmacht. Das mag bei steigendem Traffic und Umsatz kein Problem sein, für die meisten dürfte diese Prämisse aber nicht zutreffen.
Wer Wert schöpfen will,
muss Wert stiften
Während viele auf die Fixkosten schauen, sind vor allem die Margen im klassischen „Drittanbietermodell“ unter Druck. Für Kunden ist in vielen Konzepten schon lange kein differenzierender Leistungswert mehr erkennbar. Die Zahlungsbereitschaft ist entsprechend verloren gegangen. Hohe Austauschbarkeit und oft nur durchschnittliche Leistungen führen dazu, dass Kunden zum günstigsten Preis abwandern. Eigenes geistiges Eigentum, emotionale Belohnung, wertschöpfende Angebote und Leistungen in Abgrenzung zum Wettbewerb sind die Basis für die Zahlungsbereitschaft der Kunden und damit für gesunde Margen. Wer Wert schöpfen will, muss Wert stiften.
Markenwert: Nicht zuletzt ist der Anteil an organischem Umsatz ein weiterer Lackmustest für die Zukunftsfähigkeit. Ein hoher Anteil an Traffic und Neukunden durch Marketing kann eine gezielte Investition in den Aufbau einer künftigen Kundenbasis sein. Oder aber ein Indikator für zwei Probleme: mangelnder Markenwert und geringe Kundenloyalität. Händler sehen sich zu oft als neutrale Ausstellungsfläche für überall verfügbare Fremdmarken und vernachlässigen den Aufbau einer eigenen Marke. Rationale und emotionale Mehrwerte schützen nicht nur vor Kundenabwanderung, sondern hebeln auch die Marketingausgaben.
Ergo: Es gibt keine generelle Krise, sondern lediglich Unternehmen und Geschäftsmodelle, die in der Heuristik insgesamt zu gering punkten. Kanal egal.
Stefan Wenzel ist seit mehr als 20 Jahren im Digitalen Handel und einer der profiliertesten Köpfe der Branche. Seine Vita beinhaltet unter anderem Stationen als Geschäftsführer für Unternehmen wie Ebay, brand4friends, Otto, Mexx und Tom Tailor Digital. Stefan Wenzel unterstützt Firmen, Gründer und Geschäftsführer als digitaler Beirat, ist regelmäßiger Sprecher auf Fachkonferenzen, Interview- und Podcast-Gast. www.stefanwenzel.com