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War das alles nur Fassade?

Aktuell zeigt sich, was von den Bekenntnissen vieler Unternehmen zu Sustainability und Diversity seit jeher zu halten war. Der Wind dreht sich. Gerade jetzt liegt in einer stringenten Haltung zu gesellschaftlich progressiven Themen eine Möglichkeit zur positiven Differenzierung, meint Stefan Wenzel.
Stefan wenzel
Ste­fan Wen­zel

Kaum ein Tag ver­ging in den letz­ten Jah­ren ohne gesell­schafts­po­li­ti­sches State­ment von Unter­neh­men, kaum eine Kom­mu­ni­ka­ti­on ohne mora­li­schen Bei­pack­zet­tel. CEOs als all­ge­gen­wär­ti­ge Gut­men­schen, Fir­men als mora­li­sche Instanz, gekonnt insze­niert auf Social Media.

Doch der Wind in Poli­tik und Wirt­schaft hat sich gedreht. Vom eins­ti­gen Wer­te-Pathos sind oft nur noch eine Hand­voll ver­blas­sen­der Flos­keln und Schat­ten an der Wand geblie­ben. Unter­neh­men, die ges­tern noch osten­ta­tiv auf Diver­si­ty, Nach­hal­tig­keit und Remo­te-Work setz­ten, wol­len davon heu­te am liebs­ten nicht mehr viel wis­sen. Und obwohl auch hier­zu­lan­de nicht weni­ge Unter­neh­men im meta­pho­ri­schen Glas­haus der Authen­ti­zi­tät sit­zen, war die Empö­rung groß, als nun die ame­ri­ka­ni­sche Tech-Eli­te in maxi­ma­lem Oppor­tu­nis­mus über Nacht das poli­ti­sche Lager und den Wer­te­ka­non wech­sel­te.

War in den letz­ten Jah­ren vie­les nur Kulis­se? Haben wir uns in geschmink­te Fas­sa­den ver­liebt, die uns über sozia­le Netz­wer­ke und PR sug­ge­rier­ten, man ste­he für „mehr“ als nur Busi­ness?

Ja, vie­les war anschei­nend Fas­sa­de. Die Situa­ti­on offen­bart aber auch eine sehr grund­le­gen­de Span­nung zwi­schen der 'funk­tio­na­len Ästhe­tik' von Sys­te­men wie Unter­neh­men und einem anthro­po­lo­gi­schen Bedürf­nis des Men­schen.

Unter­neh­men sind von Men­schen geschaf­fe­ne und betrie­be­ne Sys­te­me, die in der Regel der öko­no­mi­schen Leis­tungs­ma­xi­mie­rung die­nen. Trotz mensch­li­cher Ent­schei­dungs­macht domi­nie­ren in ihnen die Logi­ken des Sys­tems: Wachs­tum, Wett­be­werb, Effi­zi­enz. Das erklärt, war­um Unter­neh­men ihre Prio­ri­tä­ten stets oppor­tu­nis­tisch an ver­än­der­te Rah­men­be­din­gun­gen anpas­sen und Prio­ri­tä­ten kon­se­quent auf wirt­schaft­li­che Leis­tung opti­mie­ren – nicht aus Bös­wil­lig­keit, son­dern aus Not­wen­dig­keit. Aus­nah­men bestä­ti­gen die Regel.

Schon in 2006 hat eine Stu­die zur Theo­rie dis­rup­ti­ver Inno­va­tio­nen gezeigt, wie Unter­neh­men unter sys­te­mi­schen Zwän­gen agie­ren: Sie nei­gen dazu, ihre Res­sour­cen und Stra­te­gien auf kurz­fris­ti­ge Gewin­ne aus­zu­rich­ten, auch wenn dies zu Wider­sprü­chen oder lang­fris­ti­gen Nach­tei­len führt.

In Authentizität liegt eine Chance. Und – insbesondere in den nächsten Jahren – eine Möglichkeit zur positiven Differenzierung.

Die Dis­kre­panz zwi­schen pos­tu­lier­ten Wer­ten und tat­säch­li­chem Han­deln ist also weni­ger mora­li­sches Ver­sa­gen als Aus­druck einer inhä­ren­ten Span­nung: Die struk­tu­rel­le Dyna­mik von Sys­te­men kol­li­diert mit unse­rem evo­lu­ti­ons­psy­cho­lo­gi­schen Bedürf­nis von Men­schen nach Authen­ti­zi­tät und Ver­trau­en, der Grund­la­ge unse­res gesell­schaft­li­chen Zusam­men­le­bens. Genau dar­in liegt die Quel­le mensch­li­cher Ent­täu­schung, wenn Unter­neh­men schein­bar mora­li­sche Kehrt­wen­den machen. 

Umge­kehrt sind die lang­fris­ti­gen, wirt­schaft­li­chen Vor­tei­le hoher Authen­ti­zi­tät eine Chan­ce. Und viel­leicht ins­be­son­de­re in den nächs­ten Jah­ren eine Mög­lich­keit zur posi­ti­ven Dif­fe­ren­zie­rung am Markt.

Lang­fris­ti­ge Glaub­wür­dig­keit ent­steht vor allem durch kon­sis­ten­tes Ver­hal­ten ohne Wer­te­lü­cke zwi­schen Anspruch und Wirk­lich­keit. Je grö­ßer also die Gefahr ist, auf der Makro­ebe­ne den Wer­te­kom­pass zu ver­lie­ren, des­to wich­ti­ger wird die Mikroebe­ne, die wir alle tag­täg­lich mit­ge­stal­ten. Jeder Ein­zel­ne trägt Ver­ant­wor­tung dafür, die Lücke zwi­schen ethi­schem Anspruch und geleb­ter Wirk­lich­keit zu schlie­ßen. Das nächs­te Mee­ting, die kri­ti­sche E‑Mail, die nächs­te Abwä­gungs­ent­schei­dung – alles Gele­gen­hei­ten, Wahr­haf­tig­keit zu zei­gen und – jen­seits von Lin­ke­dIn und PR – posi­ti­ve Wer­te durch tat­säch­li­ches Ver­hal­ten zu eta­blie­ren.

Was du tust, ist wer du bist. In die­sem Sin­ne: When they go low, let’s go high!

Ste­fan Wen­zel ist seit mehr als 20 Jah­ren im Digi­ta­len Han­del und einer der pro­fi­lier­tes­ten Köp­fe der Bran­che. Sei­ne Vita beinhal­tet unter ande­rem Sta­tio­nen als Geschäfts­füh­rer für Unter­neh­men wie Ebay, brand4friends, Otto, Mexx und Tom Tail­or Digi­tal. Ste­fan Wen­zel unter­stützt Fir­men, Grün­der und Geschäfts­füh­rer als digi­ta­ler Bei­rat, ist regel­mä­ßi­ger Spre­cher auf Fach­kon­fe­ren­zen, Inter­­­­­­view- und Pod­­­­­­cast-Gast. www.stefanwenzel.com

Bei­trä­ge von Ste­fan Wen­zel