Kaum ein Tag verging in den letzten Jahren ohne gesellschaftspolitisches Statement von Unternehmen, kaum eine Kommunikation ohne moralischen Beipackzettel. CEOs als allgegenwärtige Gutmenschen, Firmen als moralische Instanz, gekonnt inszeniert auf Social Media.
Doch der Wind in Politik und Wirtschaft hat sich gedreht. Vom einstigen Werte-Pathos sind oft nur noch eine Handvoll verblassender Floskeln und Schatten an der Wand geblieben. Unternehmen, die gestern noch ostentativ auf Diversity, Nachhaltigkeit und Remote-Work setzten, wollen davon heute am liebsten nicht mehr viel wissen. Und obwohl auch hierzulande nicht wenige Unternehmen im metaphorischen Glashaus der Authentizität sitzen, war die Empörung groß, als nun die amerikanische Tech-Elite in maximalem Opportunismus über Nacht das politische Lager und den Wertekanon wechselte.
War in den letzten Jahren vieles nur Kulisse? Haben wir uns in geschminkte Fassaden verliebt, die uns über soziale Netzwerke und PR suggerierten, man stehe für „mehr“ als nur Business?
Ja, vieles war anscheinend Fassade. Die Situation offenbart aber auch eine sehr grundlegende Spannung zwischen der 'funktionalen Ästhetik' von Systemen wie Unternehmen und einem anthropologischen Bedürfnis des Menschen.
Unternehmen sind von Menschen geschaffene und betriebene Systeme, die in der Regel der ökonomischen Leistungsmaximierung dienen. Trotz menschlicher Entscheidungsmacht dominieren in ihnen die Logiken des Systems: Wachstum, Wettbewerb, Effizienz. Das erklärt, warum Unternehmen ihre Prioritäten stets opportunistisch an veränderte Rahmenbedingungen anpassen und Prioritäten konsequent auf wirtschaftliche Leistung optimieren – nicht aus Böswilligkeit, sondern aus Notwendigkeit. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Schon in 2006 hat eine Studie zur Theorie disruptiver Innovationen gezeigt, wie Unternehmen unter systemischen Zwängen agieren: Sie neigen dazu, ihre Ressourcen und Strategien auf kurzfristige Gewinne auszurichten, auch wenn dies zu Widersprüchen oder langfristigen Nachteilen führt.
In Authentizität liegt eine Chance. Und – insbesondere in den nächsten Jahren – eine Möglichkeit zur positiven Differenzierung.
Die Diskrepanz zwischen postulierten Werten und tatsächlichem Handeln ist also weniger moralisches Versagen als Ausdruck einer inhärenten Spannung: Die strukturelle Dynamik von Systemen kollidiert mit unserem evolutionspsychologischen Bedürfnis von Menschen nach Authentizität und Vertrauen, der Grundlage unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens. Genau darin liegt die Quelle menschlicher Enttäuschung, wenn Unternehmen scheinbar moralische Kehrtwenden machen.
Umgekehrt sind die langfristigen, wirtschaftlichen Vorteile hoher Authentizität eine Chance. Und vielleicht insbesondere in den nächsten Jahren eine Möglichkeit zur positiven Differenzierung am Markt.
Langfristige Glaubwürdigkeit entsteht vor allem durch konsistentes Verhalten ohne Wertelücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Je größer also die Gefahr ist, auf der Makroebene den Wertekompass zu verlieren, desto wichtiger wird die Mikroebene, die wir alle tagtäglich mitgestalten. Jeder Einzelne trägt Verantwortung dafür, die Lücke zwischen ethischem Anspruch und gelebter Wirklichkeit zu schließen. Das nächste Meeting, die kritische E‑Mail, die nächste Abwägungsentscheidung – alles Gelegenheiten, Wahrhaftigkeit zu zeigen und – jenseits von LinkedIn und PR – positive Werte durch tatsächliches Verhalten zu etablieren.
Was du tust, ist wer du bist. In diesem Sinne: When they go low, let’s go high!
Stefan Wenzel ist seit mehr als 20 Jahren im Digitalen Handel und einer der profiliertesten Köpfe der Branche. Seine Vita beinhaltet unter anderem Stationen als Geschäftsführer für Unternehmen wie Ebay, brand4friends, Otto, Mexx und Tom Tailor Digital. Stefan Wenzel unterstützt Firmen, Gründer und Geschäftsführer als digitaler Beirat, ist regelmäßiger Sprecher auf Fachkonferenzen, Interview- und Podcast-Gast. www.stefanwenzel.com