Okay, ich habe jetzt drei Wochen Zeit gehabt, die Sache sacken zu lassen und die erste Aufruhr, welche dieses Ereignis Anfang Mai ausgelöst hat, zu vergessen. Es haben sich wieder andere Themen im Kopf Platz genommen, Billie Eilish beschäftigt mich nicht mehr so heftig. Und damit hat sich auch die quälende Frage fast verflüchtigt, wie man ihr Aufsehen erregendes Cover der Vogue werten soll. Heute jedoch will das Thema noch einmal an die Oberfläche, und ich wage es, mich quer zum ganzen Jubel zu stellen und sage:
Ich finde, sie hat sich damit keinen Gefallen getan – vielen anderen aber schon.
Damit wir uns richtig verstehen: Ich bin keiner, der Billie Eilish pauschal für überschätzt hält. Bis vor kurzem hätte ich sogar gesagt: Billie Eilish ist ohne Zweifel eines der interessantesten neuen Pop-Phänomene der jüngeren Zeit – und obwohl ich nicht ihre primäre Zielgruppe bin, finde auch ich ihre Musik neu, spannend und irgendwie zu dieser Zeit passend. Ich erkenne in Eilish, auch wenn sie mich als Mann mittleren Alters mit ihrer Arbeit nicht direkt anspricht, eine erhöhte Relevanz und faszinierende Aktualität.
Billie Eilish hat eine eigene Stimme, die sogar einem James-Bond-Song gerecht wird. Und sie sieht ungewöhnlich aus – so vollkommen anders als die gängigen Pop-Klischees, seien es aufgetakelte Hip-Hop-Girls, schwülstige Soul-Diven oder jammernde Folk-Hipsterinnen mit der akustischen Klampfe. Diese Sängerin ist zu Recht ein Vorbild für ihre Generation – stilistisch, inhaltlich und persönlich.
Anfang Mai präsentierte sich Billie Eilish nun aber, rechtzeitig zum Launch ihrer neuen Platte, als aufgedonnerte Sex-Göttin im alten Hollywood-Stil, mit blonder Wasserwelle, straff geschnürtem Korsett, Latexhandschuhen, Strapsen, Seidenstümpfen und High-heels. Das ganze Arsenal klischeehafter weiblicher Sexyness war zu sehen, arrangiert auf altrosa-farbenen Teppichen und Samt.
Derart „eingepackt“ (oder ausgepackt?) wurde Billie Eilish von einem Club älterer Herren, allesamt hochdotierte Veteranen der Modewelt – Edward Enninful (49), Chefredaktor der englischen Vogue, Alessandro Michele (48) von Gucci, Domenico Dolce (62) und Stefano Gabbana (58), Riccardo Tisci (46) von Burberry und Craig McDean (57), Fotograf der gefeierten Bilder. Immerhin: Das Styling auf dem Fotoshooting machte mit Dena Neustadter Giannini eine jüngere Frau.
Da stand und lag sie nun: entblößt, eingeschnürt und hindrapiert wie eine typische Altherrenfantasie – Billie Eilish, vormals bekannt für ihre coolen weiten Pullis und Hosen, Hoodies und Boots, mit denen sie bisher nach eigenem Bekunden jede Diskussion über ihren Körper unterbinden und eine Aura der Selbstbestimmung schaffen wollte. Nun die 180-Grad-Kehrtwende: so exponiert wie nie. Sogar ihre Tattoos im Lendenbereich, die sie ursprünglich ein Leben lang vor ihren Fans verstecken wollte, waren zu sehen.
Billie Eilish ist nun auch eine hübsche Vorführpuppe des neumodischen Fashion- und Pop-Business geworden. Zurecht geschnürt und vorgeführt von demselben Club der älteren Herren, die nun schon so lange überholte Bilder von Weiblichkeit entwerfen.
Die Message des neuen Looks war leicht zu verstehen: Aus dem im Rampenlicht aufgewachsenen, androgynen Teenie-Girl ist eine Frau geworden, mit allen Attributen. Dass Billie Eilish auch diesen Wandel als Self-Empowerment und feministischen Akt erklären würde, war klar – und man darf ihr glauben, dass sie es so meint, wenn sie sagt: „Ich kann tun und lassen, was immer ich will.“ Da hat sie Recht, das kann ihr niemand nehmen.
Dennoch kann ich nicht umhin, mit Billie Eilish jüngstem Akt der Selbstbestimmung zwei eigenartige Empfindungen zu haben: Einmal jene des Fremdschämens – ich betrachte diese Bilder nicht gerne, sie befremden mich. Und zum zweiten das Gefühl des Verlustes: Da ist uns etwas abhanden gekommen, das besonders und kostbar war. Billie Eilish ist nun auch einfach eine hübsche Vorführpuppe des neumodischen Fashion- und Pop-Business geworden, fürchte ich. Zurecht geschnürt und vorgeführt von demselben Club der älteren Herren, die nun schon so lange überholte Bilder von Weiblichkeit entwerfen.
Der Griff in die Hollywood-Klamottenkiste des Glamours ist dröge. Das Arsenal an Boudoir-Kleidungsstücken, das Billie Eilish hier vorführt, ist gänzlich von gestern. Schade, dass sich die Zukunft der Popmusik scheinbar widerstandslos solche alten Schablonen überstülpen ließ. Ich hätte mir gewünscht, dass sie ein wirklich neues Fass aufmacht. Denn gewiss ist in der Mode auch zum Thema Weiblichkeit noch nicht alles gesagt?
Jetzt ist es also raus. Und ich muss mit einem Fäkaliensturm rechnen. Nun gut, ich werde es aushalten. Darf ja heute jeder seine Meinung haben.