Alexander graf spryker

„Ich glaube nicht mehr an das klassische Handelsmodell“

Auf einen Kaffee mit…. Alexander Graf. Der Digital-Experte über die Zukunft des Verkaufens.

Wenn ich Dir eine Mil­lio­nen­sum­me über­wei­se mit der Maß­ga­be, ein Han­dels­un­ter­neh­men zu grün­den: Wie sähe das aus?

(lacht) Als wir vor sechs Jah­ren mit der Bera­tung ange­fan­gen haben, haben uns unse­re Kun­den auch gefragt, was sie denn tun soll­ten, um sich auf die digi­ta­le Welt ein­zu­stel­len. Unse­re Ant­wort war nicht sel­ten: Idea­ler­wei­se ver­kaufst Du Dein Unter­neh­men und die Gebäu­de, noch fin­dest Du einen, der Dir Geld dafür gibt. Und die wahr­schein­lich bes­te Stra­te­gie für Dich ist, Ama­zon-Akti­en zu kau­fen. Ich weiß nicht, ob den Rat einer befolgt hat.

Gibt es die Unter­neh­men noch?

Größ­ten­teils. Aber ihr Zustand ist eher pre­kä­rer gewor­den. Ich glau­be nicht an Han­dels­un­ter­neh­men, die ihr Geld klas­sisch über die Pro­dukt­mar­ge ver­die­nen müs­sen. Das funk­tio­niert allen­falls noch in der Nische. Da ist das Musik­haus Tho­mann für mich das Bei­spiel Num­mer Eins. Oder Sport-Tied­je im Heim­fit­ness-Bereich.

Ein Tho­mann lebt aber auch von Mar­ge.

Ja. Aber Tho­mann domi­niert sei­ne Nische. Von den vier Mil­li­ar­den, die in Euro­pa mit Musik­in­stru­men­ten umge­setzt wer­den, ent­fällt eine Mil­li­ar­de allein auf Tho­mann. Die haben sich eine Stel­lung erar­bei­tet, die schwer anzu­grei­fen ist. Es müs­sen Pro­duk­te sein, wo es um Inves­ti­ti­ons­ent­schei­dun­gen geht, und wo die Kun­den mehr­fach im Jahr frei­wil­lig zurück­kom­men. Aber in den meis­ten Kate­go­rien ist den Men­schen völ­lig egal, wo sie ein­kau­fen. Digi­ta­le Han­dels­mo­del­le ver­nich­ten die Zwi­schen­han­dels­mar­ge, und wer kei­nen orga­ni­schen Kun­den­zu­gang hat, der kann lang­fris­tig nur ver­lie­ren. Von daher glau­be ich nicht mehr an das klas­si­sche Han­dels­mo­dell.

Wenn Du in Ham­burg die Mön­cke­berg­stra­ße run­ter­läufst und links und rechts schaust: Wer wird dort in 20 Jah­ren noch da sein?

Ganz am Anfang gibt es einen Nike-Flag­ship­s­to­re, dann gibt es noch ein paar Läden des täg­li­chen Bedarfs, Ross­mann und so wei­ter. Aber all die Tele­fon­lä­den, die Mode­ge­schäf­te, Peek & Clop­pen­burg, Görtz – in 20 Jah­ren wird kei­ner von denen mehr da sein. Da bin ich ziem­lich sicher. Dafür aber mehr von den Cafés, die es in den Stich­stra­ßen rechts und links heu­te schon gibt.

Ich den­ke, vie­le im Han­del haben die­se exis­ten­zi­el­le Her­aus­for­de­rung inzwi­schen begrif­fen. Und suchen jetzt ihr Heil online, die Grö­ße­ren wol­len gleich Platt­form wer­den. Kann denn jeder Platt­form wer­den? Oder bleibt am Ende nur noch ein Oli­go­pol weni­ger Rie­sen – Ama­zon, Ali­baba, viel­leicht noch Zalan­do?

Wenn drei Leu­te in Ber­lin 2008/2009 ein so fun­da­men­ta­les Busi­ness neu auf­zie­hen kön­nen, dann hat die­se Chan­ce grund­sätz­lich auch ein Peek & Clop­pen­burg mit sei­nen tau­sen­den Mit­ar­bei­tern. Womit sich die­se Unter­neh­men alle­samt schwer tun, ist die Exe­ku­ti­on einer neu­en Aus­rich­tung. Da sind viel­fach trä­ge,  gewach­se­ne Struk­tu­ren, die Chan­ge ver­hin­dern. Wer grö­ße­re IT-Pro­jek­te in sol­chen Kon­zer­nen gemacht hat, weiß, dass die Leu­te dort nicht doof sind, aber die Lega­cy macht alles lang­sam und letzt­lich vie­le gute Ideen kaputt. Fak­tisch muss man daher lei­der sagen: Es gibt wenig Hoff­nung.

Aber ohne Han­dels­part­ner wird auch ein Markt­platz nicht funk­tio­nie­ren.

Das stimmt. Natür­lich braucht ein Markt­platz Part­ner, auf die er das Waren­ri­si­ko aus­la­gern kann. Ob das Händ­ler oder Her­stel­ler sind, spielt zunächst kei­ne gro­ße Rol­le. Das ist aber nicht der Eng­pass. Es stellt sich für Markt­plät­ze eher die Fra­ge, was es bringt, den 500. Anbie­ter eines USB-Laut­spre­chers auf­zu­neh­men. Wahr­schein­lich nichts. Ein Sor­ti­ment von zehn Akku­boh­rern ist aus Kun­den­sicht nicht so attrak­tiv wie 100. Aber 1000 sind kon­tra­pro­duk­tiv.

Liegt in dem Über­an­ge­bot nicht eine Achil­les­fer­se von Ama­zon? Letz­tes Jahr habe ich dort einen Christ­baum­stän­der kau­fen wol­len und fühl­te mich irgend­wie genö­tigt, die Kun­den­be­wer­tun­gen von x ver­schie­de­nen Anbie­tern zu lesen, um im Nach­hin­ein zu den­ken: Was ver­schwen­de ich hier eigent­lich mei­ne Zeit wegen der 20 Euro Preis­un­ter­schied.

Das ist mehr als eine Achil­les­fer­se. Aber wür­de es nun für den Her­stel­ler eines Christ­baum­stän­ders Sinn erge­ben, einen Christ­baum­stän­der-Markt­platz zu auf­zu­ma­chen? Eher nicht. Die Such­funk­tio­nen bei Ama­zon sind im Ver­gleich zu ande­ren Anbie­tern lächer­lich. Ich muss dort genau wis­sen, was ich suche.

“Es gibt sicher eine Berechtigung für stationäres Einkaufen, und die Hälfte aller Kunden werden das bevorzugen. Aber die Hälfte reicht halt nicht aus, um die Infrastruktur des stationären Einzelhandels zu finanzieren.”

Vie­le Anbie­ter set­zen des­we­gen ja auf Per­so­na­li­sie­rung und las­sen Algo­rith­men Ange­bo­te indi­vi­du­ell zuschnei­den. Kön­nen Maschi­nen wirk­lich kom­ple­xes und nicht sel­ten unbe­re­chen­ba­res mensch­li­ches Kon­sum­ver­hal­ten anti­zi­pie­ren? Ist ein guter und ver­trau­ens­wür­di­ger Ver­käu­fer nicht viel eher in der Lage, sich indi­vi­du­ell auf Kun­den ein­zu­stel­len? Wenn ich einen Arzt suche, fol­ge ich doch auch eher der Emp­feh­lung eines Freun­des als einem anony­men Online-Por­tal mit poten­zi­ell gefak­ten Bewer­tun­gen.

Es geht dar­um, dass sich der Kun­de gut fühlt. Das geht mit per­sön­li­cher Bera­tung. Und das geht online, wenn der Kun­de Vor­schlä­ge bekommt, die zu ihm pas­sen. Und der Ver­käu­fer sitzt nun mal zuhau­se nicht mit auf dem Sofa. Es gibt sicher eine Berech­ti­gung für sta­tio­nä­res Ein­kau­fen, und die Hälf­te aller Kun­den wer­den das bevor­zu­gen. Aber die Hälf­te reicht halt nicht aus, um die Infra­struk­tur des sta­tio­nä­ren Ein­zel­han­dels zu finan­zie­ren – die Mit­ar­bei­ter, die Mie­ten und so wei­ter.

Wel­che Bedeu­tung haben Mar­ken in einer digi­ta­len Welt?

Wenn ich Pro­duk­te digi­tal sich­te, dann beschrei­be ich zunächst mein Pro­blem: „Brat­pfan­ne – Induk­ti­on – Edel­stahl“. Was dann kommt, ist für mich rele­vant. Und nicht mehr das, was ich sehe, wenn ich bei Kar­stadt die Trep­pe hoch­fah­re – Fiss­ler, WMF und so wei­ter. An der Roll­trep­pe ganz vor­ne plat­ziert sein, das ist heu­te Ama­zon SEO. Dafür brau­che ich kei­ne Leu­te mehr, die den Kar­stadt-Zen­tral­ein­kauf betü­deln. Es ist nicht so, dass Mar­ken kei­ne Rol­le mehr spie­len. Aber wie man Mar­ken managt, das wird sich kom­plett ändern.

Pro­duk­te wer­den ja nicht nur gene­risch gesucht und nach Ama­zon-Plat­zie­rung gekauft. Mar­ken sind ja auch Ori­en­tie­rungs­hil­fen, weil die Kon­su­men­ten damit bestimm­te Qua­li­täts­ei­gen­schaf­ten ver­bin­den. Und weil sie Pres­ti­ge ver­lei­hen. Die Lou­is Vuit­ton-Tasche ist qua­li­ta­tiv nicht bes­ser als man­ches Kauf­haus-Pro­dukt. Aber sie hat einen Pres­ti­ge­wert und wird gekauft, weil das Logo drauf ist.

Das stimmt. Für sol­che Pro­duk­te gilt das wohl, aber im Com­mo­di­ty-Bereich wird die Dif­fe­ren­zie­rung über Mar­ken und die Flä­chen­dis­tri­bu­ti­on sicher sehr viel schwie­ri­ger. Es wer­den zudem neue Mar­ken ent­ste­hen, die in den Home­turf der eta­blier­ten Brands ein­drin­gen. Heu­te kann ich ja als Influen­cer über mei­nen Tik­tok- oder Insta­gram-Kanal sehr leicht Pro­duk­te an mei­ne Ziel­grup­pe ver­kau­fen. Das pas­siert ja auch schon. Nimm Bibis Sham­poo, Pame­la Reif oder Chia­ra Fer­rag­ni. Wenn man sieht, wel­che Reso­nanz die in ihrer Ziel­grup­pe ent­fa­chen kön­nen, da wird es man­chen klas­si­schen Mar­ken schon schwer­fal­len, mit­zu­hal­ten. Des­halb kön­nen die Lou­is Vuit­tons die­ser Welt die­se Kanä­le nicht igno­rie­ren. Es mag ihnen heu­te in den Cities noch gut gehen. Aber wenn die ande­ren gro­ßen Händ­ler und Kauf­häu­ser dort ihre Tore schlie­ßen, dann wird die Fre­quenz auch für die­se Läden dün­ner wer­den.

Wir haben noch gar nicht über Coro­na gespro­chen! Es sieht so aus, als ob die Kri­se der Digi­ta­li­sie­rung zusätz­li­chen Schub gibt.

Es stimmt. Wer vor­her online schon gut drauf war, der pro­fi­tiert. Das geht ganz klar zu Las­ten derer, die nur sta­tio­när prä­sent sind. Wo soll der Umsatz sonst her­kom­men? Ja, ich sehe eine star­ke Ver­schie­bung. Ich sehe auch eine nach­hal­ti­ge Ver­schie­bung.

Hat das die Bereit­schaft der eta­blier­ten Play­er geför­dert, sich nun auf den Weg in die digi­ta­le Welt zu bege­ben?

Da wer­den sicher­lich nun vie­ler­orts Pro­jek­te ange­scho­ben, die aber nicht sel­ten im alten Gefäng­nis von Läden, Who­le­sa­le und Ver­triebs­in­ter­es­sen gefan­gen blei­ben. Manch­mal wer­den aber auch Din­ge, über die man jah­re­lang nur dis­ku­tiert hat, jetzt ein­fach mal gemacht. Das ist auch rich­tig so. Die größ­te Ver­än­de­rung pas­siert sicher auf Mar­ken­sei­te. Die den­ken jetzt ver­stärkt über Direkt­ver­triebs­stra­te­gien nach. Wer den direk­ten Kun­den­kon­takt nicht hat, wird degra­diert zum Lie­fe­ran­ten, der sei­ne Mar­ge aus der Logis­tik zie­hen muss. Das wäre der Ein­stieg in die Bedeu­tungs­lo­sig­keit.


Alex­an­der Graf ist Her­aus­ge­ber des Blogs Kas­sen­zo­ne und Grün­der des Bera­tungs­un­ter­neh­mens eTri­bes sowie Grün­der und Geschäfts­füh­rer des Soft­ware­an­bie­ters Spry­ker Sys­tems. Er ist außer­dem Autor zahl­rei­cher Fach­bei­trä­ge und ‑bücher zur Stra­te­gie digi­ta­ler Geschäfts­mo­del­le.